Eine Generation von Selbstdarstellern

In Sozialen Medien zeigen wir der Welt, wie glücklich wir sind – oder wie unendlich traurig. Je tiefer das ausgestellte Gefühl, desto mehr Likes erhält es. Über eine Generation, die sich mit der Darstellung von Gefühlen besser auskennt als mit Gefühlen selbst. 

TEILEN:

Im Sommer 2020 habe ich mal ein Date verpasst, weil ich beinahe starb. Es war ein Samstag im Juni. Wir hatten uns für den späten Nachmittag verabredet, und weil mich der wolkenlose Tag ins Freie zog, beschloss ich, eine morgendliche Fahrradtour zu machen. Ich schaffte 35 Kilometer, bevor ich auf dem asphaltierten Radweg, der sich südlich des Müggelsees durch den Wald zieht, die Kontrolle über mein Rad verlor. Eine Gruppe von Rennradfahrern überholte mich so knapp, dass ich erschrocken auswich und vom Asphalt rutschte. Meine Erinnerungen verließen mich Sekundenbruchteile, nachdem ich einen Schlag gespürt hatte, der mich über den Lenker schleudern ließ. Dann wurde es schwarz.

Eine halbe Stunde später hörte ich mich verzweifelt zu dem Rettungssanitäter sagen, der sich gerade über mich beugte: „Aber ich hab’ heute Nachmittag noch ein Date.“

„Dit schaffen Se vielleicht sogar“, entgegnete er. „Dann ha’m Se ja schon mal wat zu erzähl’n.“

Es war ein Gedanke, der mich beruhigte. So konnte man das auch sehen, dachte ich. Der Sanitäter half mir, mich aufzurichten und führte mich behutsam durch den Wald. Nachdem er mir im Krankenwagen eine Halskrause angelegt hatte, begutachtete er fachmännisch die tiefen Kratzer, die der Sturz in meinen Helm geschnitten hatte.

„Ohne Helm wär’n Sie jetzt schwerstbeschädigt“, sagte er fachmännisch. „Oder tot.“

Oder tot?, dachte ich hilflos. Schwerstbeschädigt oder tot. Ich überlegte kurz, was mir lieber war. Tot war mir lieber. So brutal dieser Gedanke auch war.

Wie ich es nicht mehr zu meinem Date schaffte

Um einige Tests zu machen und innere Verletzungen auszuschließen, fuhren wir ins Krankenhaus Köpenick. Es ist das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde. Der Kreis schloss sich, was kein gutes Zeichen war, wenn man es symbolisch sehen wollte. Im Krankenhaus wurde ein CT von meinem Kopf gemacht, bevor ich auf der fahrbaren Trage in einem der engen Krankenhausflure auf die Diagnose wartete.

Während ich wartete, hörte ich hinter der halboffenen Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges zwei Stimmen, die offensichtlich über mich sprachen. Sie sprachen über mich, als wäre ich nicht dabei, und für sie war ich das ja auch nicht. So erhielt ich meine Diagnose ungefiltert. Ich konnte keine vollständigen Sätze verstehen, aber die vereinzelten Worte, die in den Flur drangen, waren schon aufschlussreich genug.

„Mehrere Brüche“, hörte ich sie sagen, und „Unerwartet viele Splitter“. Worte, die ich in Zusammenhängen, die mein Gesicht einschließen, nur ungern höre. Ich ahnte vage, dass wohl nicht damit zu rechnen war, dass ich es pünktlich zu meinem Date schaffen würde.

Ein Pfleger öffnete die angelehnte Tür und schob mich in das Zimmer, wo mir von einer Ärztin mitgeteilt wurde, dass ich es nicht mehr zu meinem Date schaffen würde. Mein Jochbein war doppelt gebrochen, sagte sie. Sie würden mich zwei Tage zur Beobachtung hierbehalten. Falls innere Blutungen aufträten. Das war bedauerlich, auch weil das Date seit Wochen geplant war. Die Frau, mit der ich schon mehrere stundenlange Telefonate geführt hatte, war für einige Tage aus Hamburg angereist. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut.

Die Freude auf die Likes

Während mich der Pfleger durch die langen Krankenhausgänge zu meinem Zimmer schob, nahm ich mein Handy und schrieb meinem Date, dass ich es nicht schaffen würde. Im Fahrstuhl, der uns in die fünfte Etage brachte, entdeckte ich fasziniert, dass die Decke mit einem abgedunkelten Spiegel verkleidet war. Ich blickte praktisch von oben auf mich herab.

„Die Perspektive ist perfekt“, rief ich begeistert. Der Pfleger trat zur Seite, ich machte ein paar Selfies, von denen ich das Beste auswählen würde, um es auf Instagram posten zu können. Gerade war ich beinahe gestorben, jetzt war ich wieder im Modus. Es ist schon erschreckend, wie tief diese Mechanismen in einem verankert sind.

Fahrstuhl-Selfie nach Nahtoderfahrung: „Erschreckend, wie tief diese Mechanismen in mir verankert sind.“

Im Zimmer begann ich, die Farben des Fahrstuhl-Fotos zu korrigieren. Dann schrieb ich einen Text, der zu dem Foto passte. Es war ein etwas kitschiger Text, in dem stand, dass mir diese Nahtoderfahrung klarmachte, wie wenig ich das Geschenk des Lebens nutzte. Mir fiel erst später auf, dass ich den Text mit einem Gefühl verfasste, das gar nicht zu dessen wehmütigen Inhalt passte. Ich schrieb ihn mit wachsender Euphorie. Diese Euphorie betraf nicht den Inhalt des Textes, es bezog sich auf die zu erwartenden Reaktionen. Es war die Dopaminausschüttung vor dem nächsten Post. Die Freude auf die Likes.

Tausende Likes und Kommentare

Dieses Gefühl sollte Recht behalten. Das Foto erhielt tausende Likes und Kommentare. Eine Leserin, die als Krankenschwester einige Etagen in dem Gebäude über mir arbeitete, wünschte mir in einem Kommentar unter dem Foto gute Besserung. Meine Schwester schrieb mir schockiert, dass das Foto aussah, als wäre es in der Pathologie gemacht worden. Ganz kurz dachte sie, es wäre mein letztes Bild. Als hätte ich im Angesicht meines nahenden Todes nicht meinen Glauben an Gott entdeckt, sondern meine Instagram-Zugangsdaten herausgegeben. Für den finalen Post. Die letzte große Inszenierung. Einen moderneren Abschluss eines Lebens gäbe es momentan wohl nicht.

Ich öffnete im Halbminutentakt Instagram und Facebook, um die wachsenden Zahlen zu überprüfen. Dieser Zustand kann Stunden zu Viertelstunden machen. Ich registrierte erst, dass es bereits später Nachmittag war, als dieser Rausch unterbrochen wurde. Eine der Schwestern betrat den Raum und überreichte mir einen Briefumschlag. Eine Frau habe ihn gerade unten an der Rezeption abgegeben, sagte sie. Dann nannte sie den Namen der Frau, mit der ich jetzt eigentlich auf der Terrasse des Café Schoenbrunn im Volkspark Friedrichshain sitzen wollte.

„Eine Sarah“, sagte sie.

Es war ein seltsames Gefühl, ihren Namen zu hören. In diesem Krankenhauszimmer, unter diesen Umständen. Als würde etwas nicht zueinander passen, aber auf schöne Art.

Ich öffnete den Umschlag, in dem sich ein handgeschriebener Brief befand. Ich faltete ihn vorsichtig auseinander und begann zu lesen. Während ich ihn las, entstand in mir ein ungewohntes Gefühl: Ich spürte, dass sich etwas in mir löste. Etwas Verkantetes. Als würde ich etwas wiederentdecken, auf das es ankam, das mir aber jahrelang entfallen war. Es war ein Gefühl, das aus dem wahren Leben entsteht.

Ich spürte die Macht dieses Gefühls. Es hebelte jegliche Gefühle aus, die in der digitalen Wirklichkeit entstanden waren. Mein Blick fiel auf das iPhone, das auf der Bettdecke lag. Es wirkte zurückgelassen, vergessen. Und ich hatte es ja auch vergessen. Durch Sarahs Geste war jedes Like ins Bedeutungslose gefallen. Mit jeder Push-Mitteilung leuchtete das Display auf. Es rief nach mir, aber ich hörte nicht mehr zu.

Mir fiel noch einmal das unangemessen euphorische Gefühl ein, mit dem ich den Post verfasst hatte. Ich hatte die Worte zwar geschrieben, aber ich habe dessen Inhalt nicht gespürt. Es ging mir auch nicht darum, die Erkenntnis eines Moments zu spüren, sondern darum, wie ich ein Gefühl in sozialen Netzwerken am besten ausdrücken konnte. Ich wollte es darstellen. Ich war ein Gefühlsdarsteller. Ich stelle Gefühle aus, die ich kreiere, aber nicht mehr empfinde. Denn sobald ich darüber nachdenke, wie ich ein Gefühl online vermitteln kann, spüre ich es nicht mehr. Dann habe ich es bereits in meine Selbstvermarktung eingepasst. Jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit. Meine Follower lasen meinen Post und fühlten einen kurzen Moment lang, wie ich litt. Aber ich litt gar nicht. Ich zählte ihre Likes.

Wenn man sich mit der Darstellung von Gefühlen besser auskennt als mit ihnen selbst

Die Streams sozialer Netzwerke, über die mein Blick täglich mehrere Male hetzt, sind mit konkurrierenden Gefühlsauslösern gefüllt: Trauer, Mut, Hoffnung, Humor, Schadenfreude, Kinder, Tiere, Choreografien und Kriegsleid, unterlegt mit der passenden Musik. Die Welt soll sehen, dass wir glücklich sind oder unendlich traurig. Je tiefer das ausgestellte Gefühl, desto mehr Applaus erhält es. Vielleicht wird man in einigen Jahren feststellen, dass eine Langzeitfolge sozialer Medien ist, dass sich ihre Nutzer mit der Darstellung von Gefühlen besser auskennen als mit den Gefühlen selbst. 

Leider beobachte ich immer häufiger Leute, deren Wesen darauf schließen lässt, dass dieser Prozess bereits begonnen hat. Wenn sie über Glück reden, über ihre seelische Erkrankungen oder Leid, klingt es eher nach Statement und weniger nach Empfindung. Genauso wie ihre Gesten, wirkt auch ihr Lachen aufgesetzt und hinterlässt einen schalen Geschmack von Falschheit. Sie lächeln, als hätten sie es jahrelang vor dem Spiegel geübt. Oder in ihrer Selfie-Kamera.

Vielleicht geht es ihnen wie mir, als ich mich in der verspiegelten Decke des Krankenhaus-Fahrstuhls fotografierte. Ich blickte von außen auf mich. Ich dachte an die richtige Position, die richtige Perspektive, die richtige Wirkung. Ich dachte nicht an mich, ich dachte an mein Publikum.

Mein Blick ruhte auf dem Brief in meinen Händen – auf den Worten, die Sarah mir geschrieben hatte. Es war einer dieser Momente, in denen man etwas über sich selbst begreift.

Was machte ich hier?, dachte ich.

Was machte ich seit Jahren? Die vielen Likes und Postings waren keine Verbindung zum wahren Leben. Sie waren ein Ersatz. Eine Kompensation. Seit Jahren konzentrierte ich mich auf Kopien, und verstand gar nicht, wie sehr ich das Original aus den Augen verloren hatte. Instagram-Storys, Facebook-Streams, Tweets. Es gibt so viel zu lesen, zu liken, zu posten und zu streamen. Es ist schon erstaunlich, mit welchen Dingen man sich tagtäglich beschäftigt. Und was man aufgibt, um sich tagtäglich damit beschäftigen zu können.

Ich hatte heute ein Date verpasst, weil ich beinahe gestorben war, dachte ich. Aber ich lebte ja auch nur beinahe. Ich verpasste die Dinge, auf die es ankam. Ich verpasste das wirkliche Leben. Und jetzt – genau jetzt – spürte ich, dass ich es nicht mehr verpassen wollte.

Ich las Sarahs Brief noch einige Male, um dieses Gefühl so lange wie möglich in mir zu halten. Als es abebbte, faltete ich ihn zusammen und schob ihn behutsam in den Umschlag zurück. Mir fiel auf, dass ich lächelte.

TEILEN:

Mehr lesen:

Kolumne

Die Dinge, die man nicht kaufen kann

Von den Risiken, in einer Kultur zu leben, in der die meisten vor allem in den Wohlstand investieren, der von außen gut aussieht. Und dafür den Wohlstand vernachlässigen, auf den es eigentlich ankommt.