Die Dinge, die man nicht kaufen kann

Von den Risiken, in einer Kultur zu leben, in der die meisten vor allem in den Wohlstand investieren, der von außen gut aussieht. Und dafür den Wohlstand vernachlässigen, auf den es eigentlich ankommt.

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Ich habe noch nie einen Kredit aufgenommen, weil mir der Gedanke missfällt, mich für Jahrzehnte  zu binden, vor allem an Institutionen wie eine Bank. Allein der Gedanke daran engt mich ein. Ich hätte das Gefühl, mein Leben wäre für die Dauer der Kreditlaufzeit festgeschrieben. Dass ich schon jetzt genau wüsste, wo ich in fünfzehn oder zwanzig Jahren stehen würde. Es ist das Gefühl, etwas aufzugeben, was ich nicht aufgeben will. 

Wenn ich mir eine Version meines Lebens vorstelle, in der ich nicht kündigen könnte, wenn mich meine Arbeit unglücklich macht, weil ich Kredite abzuzahlen habe, könnte ich auch eine Figur des Universums sein, das sich Franz Kafka ausgedacht hat. Eine Figur, die sich fremdbestimmt fühlen würde, und ausgeliefert, die aber trotzdem weitermacht. So stelle ich mir die Hölle vor. Ich will mein Leben nicht führen, um einen Kredit abzuzahlen. Ich will dem Geldverdienen nicht alles unterordnen müssen. Wenn alles um Geld kreist, kann man meiner Erfahrung nach schnell aus den Augen verlieren, worauf es im Leben eigentlich ankommt.

Wenn man das Leben aus den Kulissen entfernt

Ich kenne einen Mann namens David, der einen sehr hohen Kredit aufgenommen hat, um ein Grundstück in Pankow zu kaufen, auf dem eine Kaufmannsvilla steht, die 1923 gebaut worden war. Er ließ es renovieren und einrichten, um mit seiner Frau ein perfektes Leben zu führen. Als sie nach anderthalb Jahren Bauarbeiten in das Haus zogen, war er kurz davor, sich vollständig zu fühlen. Die Infrastruktur war da, sie konnten endlich beginnen, das Leben zu leben, das er sich immer gewünscht hatte. Dann passierte allerdings etwas Unerwartetes. Seine Frau verließ ihn.

Einige Wochen nachdem ich von ihrer Trennung erfuhr, habe ich David besucht. Wir schritten die hohen Räume ab. Es war alles da. Von den modernen, maßgeschneiderten Möbeln, über die Böden aus Materialien, die man berühren möchte, um zu spüren, wie sie sich anfühlen, bis hin zur  chromglänzenden, italienischen Espressomaschine. 

Es war die perfekte Kulisse, auch wenn ich sie mit den Entwürfen meines idealen Lebens verglich. Aber es fühlte sich alles falsch an. Es war deprimierend, ihn in den leeren Räumen stehen zu sehen. Während David von den Vorzügen des Hauses sprach, fiel mir auf, wie verloren er in der Kulisse eines Lebens wirkte, die er um seine Vorstellung von Glück gebaut hatte. Die unberührte Kulisse eines Kinofilms, die nicht mit Leben gefüllt war, weil es keine Darsteller gab.

David hatte sich auf diese Kulisse eines perfekten Lebens konzentriert. Er arbeitete viel, um die Vorstellung, in der sein Leben stattfinden sollte, Wirklichkeit werden zu lassen. Während er an der Infrastruktur seines Lebens arbeitete, meist bis spät in die Nacht, um es zu finanzieren, vernachlässigte er die Infrastruktur, auf die es eigentlich ankam. Er war so sehr mit den Kulissen beschäftigt, dass er den Blick dafür verlor, was ihre Ehe eigentlich ausmachte. Er hatte in die falsche Form von Wohlstand investiert. In die, die von außen gut aussieht. Er hat vernachlässigt, in das Wesen seiner Ehe zu investieren.

Für die Darstellung von Glück wird Glück nicht benötigt

Nach der Besichtigung des Hauses saßen wir auf seiner Terrasse, tranken Espresso und blickten in den angrenzenden Garten. Das Licht fiel gut. Als ich mich zu David wandte, fiel mir zum ersten Mal auf, wie die Trennung Davids Züge verändert hat. Jetzt wirkte er tatsächlich wie die Figur in einer Filmszene. Nach der Postproduction sozusagen. Die Farben stimmten, die Perspektive und auch sein abwesender Blick. Er wirkte gecasted. Man musste nur noch ein Foto machen. 

David hatte die perfekte Oberfläche geschaffen.

Er könnte die Lücke, die seine zukünftige Ex-Frau in sein Leben riss, durch eine Interieur-Influencer-Karriere ersetzen. Er könnte ein Instagram-Profil anlegen, in dem er das Haus ausstellte. Mit Vorher-Nachher-Bildern, perfekt inszenierten Fotos der Einrichtung, ein Spiel mit den Perspektiven. Er könnte Fans haben. Eine Inspiration sein. Orientierung geben. Ich könnte sein Follower sein, dachte ich. 

Wir Follower würden ihm in Kommentaren versichern, wie sehr sie sich wünschten, was er sich aufgebaut hatte. Er konnte diese Oberfläche inszenieren. Seine Follower würden davon ausgehen, sein Leben wäre perfekt. Ein Leben, das gut aussah, wenn man es von außen betrachtete. Die perfekte Oberfläche würde sie beeindrucken. Ihr Lob, ihre Likes und ihre Anzahl würden seine Seele streicheln und den Schmerz lindern, der ihn hinter der perfekten Oberfläche quälte. Er könnte sie pflegen und polieren. Ihr Funkeln würde andere blenden und ihre wohlwollenden oder neidischen Blicke könnten ihm helfen, das Leid auszublenden, das sich dahinter verbirgt. Es ist eine Flucht. Ein Kompensieren. Ein Glücksersatz, der sich aus Bestätigungen zusammenschiebt. 

Es ist erstaunlich, wie viele Interieur-Influencer sich Life-Influencer nennen. Das fangen die Missverständnisse schon an. Mit dem Wort „Life“. Ich durchforste ja auch immer mal wieder Pinterest und Instagram, um zu sehen, wie andere eingerichtet sind. Auch ich kann mich der Überzeugung nicht entziehen, einen intimen Blick in ein Leben zu werfen. Ich neige dazu, anhand sorgsam arrangierter und ausgeleuchteter, aus der perfekten Perspektive fotografierter Einrichtungen auf ein Leben zu schließen. 

Dabei betrachte ich nur ästhetische Fotos, in denen kein Leben stattfindet. Sie sind nur eine Leinwand, auf die ich meine Sehnsüchte werfe. So wie ich durch die Straßen von Prenzlauer Berg laufe und hinter den liebevoll sanierten Gründerzeitfassaden ein besseres Leben erwarte. Für die Darstellung von Glück wird Glück nicht benötigt. Es fällt nur schwer, das nicht zu übersehen.

Die Deutschen haben viel investiert: in Kredite für Wohnungen, Häuser und Küchen, in Technik, Einrichtungen und Autos. Damit die Kulisse stimmt. Viele halten sie für die allgemeingültigen Zutaten für Glück. Die meisten stellen sich ein Leben zusammen, weil sie annehmen, dass es sie glücklich machen wird, wenn es erreicht ist. Man arbeitet, nimmt Kredite auf, um sich dieses Leben leisten zu können. 

Es liegt in unserer Kultur, in der sich viele danach sehnen, Popstars, Millionäre oder erfolgreiche Geschäftsleute zu werden. Sie sind die Helden unserer Zeit. Obwohl ich es besser weiß, sehe ich, was sie erreicht haben und setze intuitiv voraus, dass sie glücklich sind. Es ist ein Missverständnis und ich muss mich immer wieder aufs Neue zwingen, mich diesem Missverständnis zu entziehen. 

Der Michael-Nast-Katalog für ein perfektes Leben

Ich habe gelernt, Erfolg richtet sich an Äußerlichkeiten wie Geld, Status oder körperlicher Perfektion aus. Obwohl ich vom Gegenteil überzeugt bin, richte ich meine Handlungen danach aus. Der missverstandene Wohlstand ist Teil meiner DNA. Eine tiefe Überzeugung, die mir im Alltag gar nicht bewusst ist. Das macht es noch schwerer, diese Überzeugung zu überschreiben. 

Auch ich habe mich auf die Oberflächen konzentriert, auf die Kulissen und Fassaden. Das mache ich immer noch. Wenn die Kulisse gut aussieht, wird das Leben, das in ihr stattfindet, auch gut sein. Davon bin ich überzeugt. Die Äußerlichkeiten entscheiden über das Innere. Als wären die Kulissen nicht der Hintergrund, vor dem sich ein Leben abspielt, sondern die notwendige Voraussetzung eines glücklichen Lebens. 

Ich lebe in einer Wohnung in der Berliner Karl-Marx-Allee, dem größten Flächendenkmal Europas. Das Gebäude beeindruckt meine Gäste genauso wie die Aussicht von meinem Balkon. Meine Eltern vergleichen meine Einrichtung mit Fotos in Möbelkatalogen, deren Preise sie nicht verstehen. Und sie haben ja recht, sogar mehr als sie ahnen. Ich kultiviere den Michael-Nast-Katalog für ein vermeintlich gefülltes Leben. Ich setze mich aufs Rad, ich stemme Gewichte, ich achte auf meine Ernährung, um in diesen Katalog zu passen. Für ihn ordne ich der Arbeit alles unter, die ja auch eine wichtige Rubrik darin ist. 

Jeder Erfolg, jedes Kompliment, jede Bestätigung hilft mir zu übersehen, was es mich kostet, dass ich mit all diesen Bestandteilen nur eine Oberfläche modelliere. Die Kulisse stimmt, aber in gelegentlichen, ganz bestimmten Momenten wird mir klar, wie sehr ich es versäumt habe, in das zu investieren, was dahinter liegt. Seelisches Wohlbefinden, wirkliche Lebensfreude und die Fähigkeit, das zu lieben, was an mir liebenswert ist. 

Ich habe versäumt, die Kulissen mit den Dingen zu füllen, auf die es eigentlich ankommt. Mit den Dingen, die man nicht kaufen kann. 

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