Viele Leute spüren den Impuls, ihr Leben ändern zu müssen. Aber sie machen es nicht. Meine Freundin Emma, die in einem Einfamilienhausgebiet am nördlichen Rand von Berlin lebt, beklagt sich zum Beispiel seit Jahren darüber, wie einsam sie sich in der Gegend fühlt.
Sie zog vor fünf Jahren dorthin. Vorher lebten sie in Prenzlauer Berg. Mit dem Umzug wechselte sie auch die Welt, in der sie sich bewegt. Emma sagte mir damals, sie sei sich nicht sicher, ob sie sich dort überhaupt zu Hause fühlen könne. Ihre Intuition sollte recht behalten.
Sie vermisst ihre Freundschaften, die die Gegend meiden. Ihr fehlen Nachbarn, mit denen sie sich versteht. Sie sehnt sich danach zu reisen, weil sie zu viel arbeitet. Sie fühlt sich abgeschnitten vom Leben. Sie spürt den Impuls, etwas unternehmen zu müssen. Sie will ausbrechen.
Mit mir kann sie darüber reden, denn ich verstehe sie. Einfamilienhausgebiete lösen bei mir Fluchtimpulse aus. Ich empfinde sie als perfekte Metapher für das Verständnis von Wohlstand, das wir in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit kultivieren. Man spart sich von einer Anschaffung zur nächsten. Jeder schafft sich seine eigene kleine Welt, das eigene Grundstück ist nur Kopie der anderen Grundstücke, aber man verklagt seine Nachbarn, wenn ein Ast über die Grundstücksgrenze ragt. Man muss sich dort sehr einsam fühlen, wenn man aus Prenzlauer Berg kommt.
Wir reden oft über Emmas Problem, aber irgendwann stellte ich etwas Beunruhigendes fest. Mein Tonfall änderte sich. Ich wurde schnell ungehalten. Ich verstand nicht gleich, was da mit mir passierte. Es waren die Gespräche. Ihre Dramaturgie. Mit ihnen verband ich ein Gefühl, das nicht zu meinen Empfindungen für Emma passte.
Die Sehnsucht, ein neues Leben auszuprobieren
Sosehr sich Emma beklagt, sobald es konkret, findet sie schnell erstaunlich viele Gründe, die gegen jeden Lösungsansatz sprechen. Obwohl sie ja offensichtlich unter ihrem Alltag leidet.
Sie kann nicht reisen, weil der Garten in ihrer Abwesenheit vernachlässigt werden würde. Sie hat ja niemanden, der sich um ihn kümmert. Sie möchte auch niemanden dafür bezahlen. Sie fühlt sich einsam, aber ihre Prenzlauer Berger Freundschaften wohnen zu weit weg. Und mit ihren Nachbarn möchte sie kein zu enges Verhältnis pflegen.
Es ist ein erstaunliches Konzept. Obwohl sie sich selbst immer wieder versichert, ihrem Leben eine neue Richtung geben zu wollen, tut sie alles dafür, um die dafür notwendigen Änderungen zu verhindern. Jedes neue Gegenargument wird mit so viel Bedeutung aufgeladen, bis es sich über das eigentliche Ziel schiebt und es unerreichbar macht. Je mehr Hindernisse sie sich selbst in den Weg legt, desto mehr beschwert sie sich. So gesehen beschwert sie sich über ihr eigenes Verhalten. Und es fällt ihr nicht einmal auf. Es ist ein seltsam verdrehtes Selbstverständnis, ein Widerspruch, der ihr nicht aufzufallen scheint.
Unsere Gespräche führten nie in eine Bewegung, sie beschrieben einen Stillstand. Wir drehten uns im Kreis und es schien nur darum zu gehen, sich weiter im Kreis zu drehen. Und vielleicht war genau das die Idee. Diese Gespräche waren Selbstzweck. Es ging Emma vor allem darum, sich zu beklagen.
Seitdem es mir bei ihr zum ersten Mal auffiel, fällt es mir bei immer mehr Menschen auf. Bei Paaren, die unter ihrer Ehe leiden, sich aber nicht trennen, weil sie es gewohnt sind, nicht allein zu sein, oder auf die Kinder Rücksicht nehmen wollen. Paare, die keine Beziehung führen, sondern es nur noch so nennen. Die Weitermachen und sich an ihrem Alltag festhalten, dessen Struktur alles zu sein scheint, was sie zusammenhält. Bis man zu einem dieser Paare geworden ist, die einem in Restaurants durch ihr endloses Schweigen auffallen. Oder bei Leuten, die unglücklich in ihrem Beruf sind, und nicht kündigen, obwohl sie seit Jahren darüber reden, demnächst zu kündigen.
Wenn ich an einem Sommernachmittag auf der Terrasse des Spreegold in der Schönhauser Allee sitze und mein Blick die Gesichter der vorbeieilenden Passanten scannt, frage ich mich immer mal, wie viele von ihnen sich danach sehnen, ein neues Leben auszuprobieren. Aus ihrem Alltag auszubrechen, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Und wie viele diesem Impuls nicht nachgehen, weil dieser Impuls sofort unter unzähligen Gegenargumenten erstickt wird.
Im „Hätte, wäre, wenn“-Leben
Seitdem ich darauf achte, fällt mir auf, wie viele mit dieser Haltung durchs Leben gehen. Auch ich bin einer von ihnen. Man erkennt es an drei Worten, die in den Sätzen solcher Menschen oft auftauchen. Die schlichten Worte „hätte“, „wäre“ und „wenn“. Worte können sehr mächtig sein. Das kann scheinbar schlichte Worte gefährlich machen. Wenn man sie oft benutzt, muss man aufpassen, dass sie nicht anfangen, das eigene Leben zu bestimmen.
Hätte, wäre, wenn. Viele beschreiben ihr Leben mit Sätzen, in denen diese drei Worte vorkommen. Mit ihnen stellen sie sich die Erinnerungen eines Menschen vor, der sie hätten sein können.
Dabei hatte man doch so viele Träume. Man hatte so viel vor, war aber erst mal vernünftig und wartete ab. Die Tage verrinnen, Wochen werden zu Monaten, Monaten werden zu Jahren. Je älter man wird, desto schneller löst ein Jahr das andere ab. Noch immer trifft man Vorkehrungen, wartet auf richtige Zeitpunkte – für Familie, Kinder, Umzüge, Trennungen, Kündigungen oder Reisen. Und sie finden immer neue Gründe, warum es erst einmal vernünftiger oder sicherer war, die Dinge, die ihnen so wichtig sind, aufzuschieben.
Und mit jedem Jahr korrigieren sie ihre Träume und geben ein wenig mehr von ihnen auf. Die großen Pläne reduzieren sich. Man begräbt sie nicht bewusst, man verschiebt sie. Man hat sie noch, aber man entfernt immer mal wieder etwas, bis sie, ganz unbemerkt, kaum noch erkennbar sind. Die großen Pläne und Träume lösen sich schleichend im Alltag auf. Bis einem auffällt, dass sie nicht mehr vorhanden sind. Man hat sie so oft ins „irgendwann“, „demnächst“, oder „auf den richtigen Zeitpunkt“ verschoben, dass sie zu einem „niemals“ geworden sind. Und dann fragt man sich, was da passiert ist. Warum man seine Träume in den letzten Jahren aus den Augen verloren hat. Ganz unbemerkt.
Wenn sich Menschen nach einem Leben sehnen, dass sie nicht geführt haben, sollten sie sich fragen, warum sie es nicht geführt haben.
Sie wollen das Risiko nicht eingehen, etwas aufzugeben, in dem sie sich eingerichtet haben. Das Risiko, diese Sicherheit zu verlassen, erscheint ihnen zu hoch. Es könnte ja mit Einschränkungen verbunden sein. Dass Dinge eingeschränkt werden, unter denen sie leiden, verschwindet hinter der Gefahr, diese Sicherheit zu verlassen. Ein Geflecht von Gewohnheiten, die man nicht aufgeben will, weil man sich in ihnen auskennt. An denen man sich festhalten kann. Obwohl sie Unzufriedenheit verursachen, will man sie nicht aufgeben. Etwas Vertrautes ist einem schließlich auch vertraut, wenn es Kummer verursacht. Man kann mit Fehlerhaftem wunderbar leben, wenn man sich daran gewöhnt hat.
Man begründet dieses Fehlerhafte mit einem Wort, das unmittelbar mit „Hätte, wäre, wenn“-Sätzen verbunden wird: Vernünftig. Ein Wort, das offensichtlich seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Die geistige Fähigkeit des Menschen, Einsichten zu gewinnen, sich ein Urteil zu bilden, die Zusammenhänge und die Ordnung des Wahrgenommenen zu erkennen und sich in seinem Handeln danach zu richten, wurde durch ein reines Sicherheitsdenken ersetzt.
Ich habe das lange verständnislos beobachtet, bis ich verstand, dass ich mit derselben Haltung ins Leben blicke. Ich war mir selbst nur zu nah, um es sehen zu können. Auch wenn ich das Wort nicht benutze, habe ich mich im Vernünftigsein eingerichtet.
Und auch mir fällt es schwer, dessen Impulsen zu widerstehen.
Die Endgültigkeit eines „hätte“, „wäre“ oder „wenn“
Darum bin ich kein Freund von Sätzen, in denen die Worte „hätte“, „wäre“ oder „wenn“ vorkommen, obwohl ich sie ständig benutze. Mit solchen Sätzen beschreibt man nicht nur verpasste Chancen, sie haben einen wesentlich stärkeren Effekt: Sie machen sie unabänderlich. „Hätte, wäre, wenn“-Gedanken sind immer auch mit dem Eingeständnis verbunden, sie nicht mehr zu verfolgen. Sie aufgegeben zu haben. Man sortiert sie in die Kategorie der Dinge, die nicht mehr zu korrigieren sind. Man findet sich damit ab.
Es nimmt den Gedanken die Möglichkeiten – ihren Spielraum.
Ich therapiere mich selbst, indem ich mich bemühe, die Worte „hätte, wäre, wenn“ aus meinem Wortschatz zu streichen. Es fällt mir schwerer als ich dachte. Seitdem ich darauf achte, fällt mir erst auf, wie inflationär ich sie benutze. Sobald ich mich bei einem dieser Sätze ertappe, versuche ich sie zu ersetzen. Ich formuliere sie neu, und erstaunlicherweise nimmt ihnen das die Endgültigkeit. Plötzlich gibt es wieder Spielraum. Es ist bemerkenswert, wie mächtig ein ersetztes Wort und ein darum neu arrangierter Satz sein können.
Wenn nur nicht etwas in mir so überzeugt wäre, das Ersetzen und neu arrangieren würde mich zu viel kosten. Obwohl es mein Leben verbessern würde. Es ist ein Prinzip, das allem zugrunde liegt, was Veränderungen verhindert. Auf allen Ebenen und in allen Bereichen des Lebens.
Lasst uns zeigen, dass wir noch in der Lage sind, uns selbst zu überraschen.
Lasst uns nicht zu vernünftig sein. Bitte!