Dating-Apps: warum sie uns bedienen

Der moderne Single-Markt beruht auf einem großen Missverständnis. Wir nehmen an, dass wir es sind, die Dating-Apps verwenden – dabei bedienen sie uns. Ein Perspektivwechsel.

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Der menschliche Fortschritt produziert gelegentlich seltsame Dinge. Dating-Apps zum Beispiel. Meiner Erfahrung nach sind Dating-Apps eine sich selbst widersprechende Erfindung. Aus irgendeinem undurchsichtigen Grund verwende ich sie nämlich konsequent so, dass sich die Sehnsucht nie verwirklicht, aus der ich sie mal heruntergeladen habe.

Ursprünglich ging es mir ja darum, mithilfe der App einer Person zu begegnen, mit der ich in eine tiefe und liebevolle Verbindung treten konnte, die mit den Jahren wuchs, bis sie zu einer gemeinsamen Heimat geworden war. Ohne dass ich es registriert habe, versank diese Sehnsucht allerdings schon nach kurzer Zeit im Nachlinkswischen unzähliger Profile. Bis nur noch dieses Wischen da war, verbunden mit der Gefahr, unmittelbar vor einer Sehnenscheidenentzündung zu stehen.

Dieser Effekt fällt mir gerade wieder verstärkt auf, seitdem ich eine Digital-Detox-Phase beendet habe. Drei Monate ohne Social Media, E-Mails oder Pushmitteilungen. Das kann sehr befreiend sein. Trotzdem habe ich meine wiederentdeckte Freiheit aufgegeben, als der August zuendeging. Ich nehme an, ich wollte dem Gefühl entgegenwirken, etwas zu verpassen. Und weil ich auch die Chancen auf mein persönliches Glück nicht verpassen wollte, belebte ich auch meine Dating-App-Profile wieder. Diesmal hatte ich jedoch aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und nutze die Premium-Versionen der Apps. Mit ihnen kann ich sehen, welche Frauen mich geliket haben.

Die Nächste, bitte!

Man könnte annehmen, das mache die Dinge einfacher, aber das Gegenteil war der Fall. Die logistische Herausforderung überforderte mich schon jetzt. Ich sortierte die angesammelten Anfragen über mehrere Abende hinweg, bis noch fünfzig übrig blieben. Eine Zahl, die zwar überschaubarer war, für meine Begriffe aber immer noch zu hoch.

Als ich einem Freund davon erzählte, rief er: „Fünfzig? Das ist doch kein Problem. Die kannst du doch relativ schnell abarbeiten.“

„Abarbeiten?“, dachte ich hilflos, ein Wort, das ich eigentlich nicht in Zusammenhängen verwenden möchte, die sich auf mein persönliches Glück beziehen. Ich stellte mir vor, wie ich unzählige erste, zweite und dritte Dates abarbeitete. Bei fünfzig Frauen konnte das schnell den dreistelligen Bereich erreichen. Moderne Fließbandarbeit sozusagen, die mich mit jedem neuen Treffen ein wenig mehr abstumpfen würde. Ich würde mich noch fremder fühlen, als ich es ohnehin schon tat – denn sobald ich mich auf Dating-Apps bewege, werde ich ja jetzt schon zu einer Person, die mir schnell fremd ist.

Ich werde zu einem Fremden, der mit Frauen matcht, aber zu träge ist, ihnen zu schreiben. Der gelegentlich mit einer der Frauen schreibt, der Unterhaltungen aber kommentarlos abbricht, sobald er das Interesse verliert. Der sich hin und wieder mit einer Frau trifft, während er jedoch weiterhin parallel immer neue Profile nach links oder rechts wischt. Der Fremde in mir ist eine Person, die sich im Auswahlprozess verfangen hat. Er hat Dating-Apps jahrelang falsch benutzt und benutzt sie immer noch falsch. Offensichtlich habe ich ein Dating-App-Handhabungsproblem.

Wie uns die Technologie bedient

Gelegentlich frage ich mich, wer mein Leben, das ich für so selbstbestimmt halte, eigentlich steuert. Wer die Entscheidungen trifft, die ich für meine eigenen halte. Dating-Apps sind der perfekte Beweis, wie fremdbestimmt ich bin.

Dating-Apps geben mir die Freiheit, mit Menschen in Kontakt zu treten, denen ich in meinem Alltag nie begegnet wäre. Sobald ich jemanden date, hat die App ihre Funktion erfüllt. Eigentlich. Aber Dating-Apps haben natürlich mehr Funktionen. Und zwar viel mehr.

Ich kenne diese Funktionen, ich weiß, wie ich diese nutze – und ich nutze sie umfangreich.

Wenn ich allerdings eine Dating-App benutze, indem ich ihre Funktionalitäten nur noch verwende, um sie zu verwenden, bediene ich die App nicht mehr. Dann habe ich die Kontrolle an die Technologie abgegeben. Dann bedient sie mich. Ihre Funktionalitäten treffen meine Entscheidungen. Obwohl ich vom Gegenteil überzeugt bin, ist es die Technologie, die mich steuert. Mit jeder Pushmitteilung, die auf meinem Display leuchtet, mit jeder neuen Mail, die mir eine Auswahl neuer potenzieller Traumpartnerinnen anzeigt, und mit jedem verführerischen neuen Profilbild, das ich nach rechts wische, obwohl ich mich schon mit einer Frau treffe.

Eigentlich müsste ich doch mein Profil löschen, sobald ich mich mit einer Frau treffe, die mich interessiert, um mich darauf konzentrieren zu können, mit ihr eine Verbindung aufzubauen. Aber warum mache ich das nicht? Das ist eine sehr gute Frage.

Ich habe herausgefunden, dass mein Dating-App-Problem nur ein Aspekt eines viel universelleren Problems ist. Mein Dating-App-Handhabungsproblem ist eigentlich ein Freiheitshandhabungsproblem. Wie so viele habe ich alle Freiheiten, bin aber nicht in der Lage, diese auf umsichtige Art zu nutzen. Dating-Apps fehlt der Beipackzettel, wie man das macht. Ich muss mir selbst beibringen, wie ich meine Freiheiten nutze, ohne mich in ihnen zu verlieren.

Auf Effizienz ausgerichteter Dating-Kapitalismus

Dating-Apps wurden weniger für mich als Menschen entwickelt, eher für den Konsumenten in mir, und sobald ich mich durch die Fotos scrolle, übernimmt der Konsument. Dessen Wertesystem richtet sich allerdings an den Gesetzen des Marktes aus, und ich fürchte, es ist kein Zufall, dass sich inzwischen der Begriff Single-Markt etabliert hat. Auch ich folge dem Glücksgefühl des Konsumenten, das nicht anhalten darf, immer wieder aufgeladen werden muss. Mit immer neuen potenziellen Traumpartnern, von denen man sich abwendet, sobald ein neuer potentieller Traumpartner auftaucht. Wir haben unser Liebesleben in die Prinzipien der Marktwirtschaft eingebettet. Das kann man sich als Live-Experiment auf dem heutigen Dating-Markt ansehen – was passieren kann, wenn man dem Markt die Entscheidungen in Bereichen überlässt, in die sich seine Gesetzmäßigkeiten nicht ausbreiten sollten.

Vor einigen Jahren hat mir ein Bekannter ganz begeistert erzählt, dass er zum ersten Mal ein Profil auf einer Dating-App erstellt hat.

„Es ist fantastisch“, rief er mit leuchtenden Augen. „Du kannst dir ganz einfach deine Traumfrau zusammenklicken.“

Es hat nicht funktioniert, obwohl er bereits viele Versuche unternommen hat. Er justiert seine Traumfraueinstellungen immer mal wieder neu. Entfernung, Alter, Figur, Kinderwunsch. Aber keine Konfiguration führt zu den gewünschten Ergebnissen. Es kommt oft zu ersten Dates, aber nur selten zu zweiten. Er scheint nicht der Typ seiner Traumfrauen zu sein.

Die Dating-App-Philosophie meines Bekannten erinnert an das Prinzip unserer Konsumgesellschaft, die uns verspricht, dass wir uns ein reiches und erfülltes Leben zusammenkaufen können. Und das funktioniert ja auch nicht so richtig. So viel wir auch kaufen, ein nachhaltiges Glück stellt sich nicht ein. Es ist kein Zufall, dass sich die Probleme in beiden Bereichen ähnlich sind: sie sind verwandt.

Sowohl die Marktwirtschaft als auch Dating-Apps sind Werkzeuge. Werkzeuge sind amoralisch. Sie sind die reine, klare Funktion. Die Moral müssen wir hinzufügen. Aber wir machen das Gegenteil, wir haben uns an ihre Funktionen angepasst. Genauso wie Dating-Apps hat die Marktwirtschaft uns zu ihrem Werkzeug gemacht. Mit ihr haben wir ein System geschaffen, das unsere Wünsche, Sehnsüchte und Träume bestimmt. Es wäre klug, sich zu fragen, wer festgelegt hat, dass das neueste iPhone-Modell so begehrenswert ist, oder der Kredit, den man aufnimmt, um eine Immobilie finanzieren zu können.

Vielleicht sollte man sich die Frage stellen, wem unsere Sehnsüchte eigentlich nützen. Wer seine Bedürfnisse an die Marktwirtschaft anpasst, nützt damit dem Wachstum der Wirtschaft. Wer seine Bedürfnisse an die Funktionalitäten von Dating-Apps anpasst, nützt den Bilanzen des Unternehmens. Es sind immer wirtschaftliche Aspekte, die im Mittelpunkt stehen – und unsere Bedürfnisse steuern.

Wir müssen offensichtlich neu lernen, diese Werkzeuge zu nutzen.

Aber wie gelingt uns das?

Der sinnvollste Weg wäre es, die eigene Persönlichkeit so zu entwickeln, dass wir imstande sind, die Werkzeuge so nutzen, dass sie unseren wirklichen Bedürfnissen entsprechen. Die Bedürfnisse des Menschen sind eigentlich ganz einfach. Wir wollen geliebt und in einer Gemeinschaft anerkannt werden, wir wollen uns nützlich und sicher fühlen. Mehr brauchen wir nicht. Alles andere dient nur der Kompensation dieser Grundbedürfnisse. Eine entwickelte Persönlichkeit lehrt uns – sozusagen als Nebeneffekt – die eigenen Bedürfnisse von den künstlichen Bedürfnissen zu unterscheiden, mit denen wir täglich überschüttet werden. Dann benutzen wir Dating-Apps wieder – und nicht sie uns.

In einer besseren Welt müsste schon in der Schule gelehrt werden, wie man die eigene Empathie kultiviert, sowie ein liebevolles Verhältnis zu sich selbst und anderen aufbaut. Das ist der Fortschritt, um den es wirklich gehen sollte. Aber wir leben nunmal nicht in einer besseren Welt. Darum liegt es – wie so oft – in unserer Hand, aus ihr eine bessere zu machen.

Wir sind alle Teil der Lösung. Jede und jeder Einzelne von uns – und das ist doch eine vielversprechende Vorstellung.

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