Manchmal muss man noch mal zurück. In einen Teil der Vergangenheit, den man für abgeschlossen hält. Man hat die damaligen Ereignisse in Erinnerungen verpackt, mit denen man am besten leben kann. Sie erscheinen festgelegt und plausibel. Sie schimmern sanft in den Farben der eigenen Wahrheit.
Aber manchmal zwingen einen die Umstände zurückzukehren. Erinnerungen noch einmal freizulegen und neu zu betrachten. Marcel Proust hat das schon ganz richtig gesehen, als er schrieb, dass die eigentlichen Entdeckungsreisen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche bestehen, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.
Im vergangenen Juli begab ich mich auf eine dieser Entdeckungsreisen, die Proust so schätzte. Als ich mich mit Max traf. Max war der Exfreund von Luise, der Frau, mit der ich vor acht Jahren zusammen war. Er war der Mann, mit dem sie liiert war, bevor wir zusammenkamen. Mein Vorgänger gewissermaßen. Ich war der Mann, für den sie ihn verließ.
Soviel zum Setting.
Ich weiß, wie seltsam das klingt. Ich meine, warum sollte ich mich mit dem Mann treffen, den meine Exfreundin meinetwegen verlassen hatte? Was hatten zwei Exfreunde derselben Frau miteinander zu besprechen? Das fühlte sich einfach nicht richtig an.
Die Sehnsucht, ein neues Leben auszuprobieren
Ich hatte mit Luise zusammengearbeitet. Als Kollegen hatten wir kaum Kontakt, aber ein halbes Jahr, nachdem ich die Firma verlassen hatte, meldete sie sich ganz überraschend bei mir. Wir trafen uns und verstanden uns so gut, dass wir uns erneut verabredeten. Die Treffen wurden zu Dates, obwohl wir sie nicht so nannten. Es fühlte sich wie der perfekte Anfang einer Liebesgeschichte an, wenn man ausblendete, dass Luise ja in einer Beziehung war. Mit Max.
Aber verglichen mit der Größe unserer Empfindungen war das, was Luise über die Jahre mit Max kultiviert hatte, nur ein blasser Ersatz. Davon war ich überzeugt. Ich beschloss, sie aus diesen Resten einer Beziehung herauszukämpfen. Als wir dann endlich zusammenkamen, nach Monaten, die uns alle viel Kraft gekostet hatten, hatte die Liebe über die vernünftige Langeweile triumphiert. So empfand ich das. Es war ein wundervolles Gefühl, der Held einer Liebesgeschichte zu sein. Und es war eine dieser Liebesgeschichten, die ein Leben lang halten würde, davon war ich überzeugt.
Nun ja.

Es wurde allerdings dann doch eine dieser lebenslangen Liebesgeschichten, die nur Anderthalb Jahre hielt. Mit unserer Trennung verschwand Luise aus meinem Alltag, wie auch ich aus ihrem – allerdings kommt Max seit einigen Jahren gelegentlich in meinem Leben vor.
Wir haben immer mal wieder aus beruflichen Gründen miteinander zu tun. Bei jeder Verabschiedung versicherten wir einander, uns demnächst auch mal privat zu treffen. Wir trafen uns nie. Ich empfand diesen Vorsatz auch eher als Höflichkeitsfloskel, mit der wir uns zeigten, dass nichts mehr zwischen uns stand. Aber gelegentlich schrieb Max mir Nachrichten, um mich an unser geplantes Treffen zu erinnern.
Zwei Versionen derselben Geschichte
Ich habe anderthalb Jahre gezögert, bevor ich zusagte, aber Anfang Juli trafen wir uns dann doch, im Biergarten eines Restaurants, das „Jäger & lustig“ heißt. Wir sprachen über die Arbeit, Max versicherte mir, dass sich die Wunde, die die Trennung von Luise riss, schon lange geschlossen hatte. Dann bestellte er die nächste Runde. „Ich hol mal noch zwei Bier“, war ein Satz, der an diesem Abend häufig fiel.
Rückblickend kann ich sagen, dass der Alkohol eine Funktion hatte. Mit jedem neuen Bier umkreisten wir ein ganz spezielles Thema enger. Dieses Thema war Luise.
„Ich hab das ja alles schon verarbeitet“, wiederholte Max, als er sein viertes Glas geleert hatte. „Aber die Dinge müssen jetzt mal auf den Tisch.“
Etwas hatte sich in seinem Blick verändert. Offensichtlich war das alles noch nicht genug verarbeitet. Etwas war aufgebrochen, die Vergangenheit floss in die Gegenwart. Ich spürte, wie ich mich verspannte. Dann begann er detailliert die damaligen Ereignisse zu schildern. Aus seiner Sicht.
Ich finde es immer interessant, zu sehen, wie sich eine Geschichte verändert, wenn man sie aus den Blickwinkeln verschiedener Personen betrachtet. Das kann allerdings schnell unangenehm werden, wenn man selbst in dieser Geschichte vorkommt. Wie ich.

Der Romantiker wird zum Soziopathen
Ich habe oft den Fehler gemacht, vergangene Geschehnisse ausschließlich als Teil meiner Vergangenheit zu sehen. Der Vergangenheit, in der ich die Hauptrolle spielte. Dass ich auch Teil anderer Vergangenheiten bin, in denen ich eine andere Rolle einnehme, habe ich ausgeblendet. Meiner Erfahrung nach sieht man ausschließlich den eigenen Schmerz, übersieht jedoch schnell die Verletzungen, die man anderen zufügt.
Jeder spielt in der Geschichte seines Lebens die Hauptrolle und hält seine Version der Wahrheit für die Wirklichkeit. Jeder ist Held seiner eigenen Geschichte. Diese Haltung bildet sich aus dem Bedürfnis, das eigene Dasein als Erfolgsgeschichte zu erleben. Und Max nahm mich auf eine Reise mit, in der er der Held war.
Dieser Abend war eine Trainingseinheit. Eine Lehrstunde in Empathie. Seine Schilderungen gaben mir die Möglichkeit, meine verklärten Erinnerungen, in denen ich mich so sicher fühlte, mit denen von Max abzugleichen.
Es ist erstaunlich, wie sich die Rollen änderten. Max hatte nicht nur die Charakterzeichnungen vollständig geändert, auch das Genre hatte gewechselt. Die romantische Komödie wurde zu einem verstörenden Psychothriller. Ohne Happy End.
Der sensible Romantiker, der ich als Hauptfigur in meinen Erinnerungen war, verwandelte sich in Max‘ Version unserer Geschichte in eine gewissenlose Nebenfigur. Sie war berechnend, kalt und manipulativ. Ein intriganter Verführer. Max beschrieb eine zutiefst gestörte Persönlichkeit. Einen Soziopathen, dem die hilflose Hauptfigur in Max‘ Geschichte nur seine Moral entgegenstellen konnte. Und natürlich hatte Max keine Chance. Das Böse siegt schließlich immer.
„Ich hab sie wirklich geliebt“, schloss Max vorwurfsvoll und leerte sein sechstes Glas. Ich warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Dieser Blick war echt. Ich fühlte mich tatsächlich, als hätte ich an allem Schuld.
Unvermittelt fragte ich mich, wie Luises Version der Geschichte aussah, die, in der sie die Heldin war. Inwieweit sich ihre Erinnerungen über unsere legen würden. Was sie verzerren, entzaubern und entstellen würden. Dieser dritte Blick würde uns eine vollständigere Wahrheit zeigen. Ich frage mich, inwieweit Max bereit wäre, diese vollständigere Wahrheit zuzulassen. Ob er sie überhaupt wissen will. Oder ich.
Ein vollständigerer Blick auf mich selbst
Ich könnte jetzt sagen, dass die Michael-Nast-Version, die Max beschrieb, nie existiert hat. Aber ich glaube, so einfach ist es dann doch nicht.
„Es gibt das eigene Leben, wie man es selbst kennt, und dann jenes, wie es andere kennen, vielleicht fehlerhaft, aber man muss dem Bedeutung beimessen“, schreibt der Schriftsteller James Salter in seinen Lebenserinnerungen. „Es fällt schwer, sich klar zu machen, dass man immer von mehreren Seiten betrachtet wird, und dass diese zusammengenommen Gültigkeit besitzen.“
Das ist ein interessanter Gedanke. Der Mensch, für den ich mich halte, wird durch den Menschen ergänzt, für den mich andere halten. Zusammengenommen beschreibt er mich am vollständigsten.
Der Abend mit Max war eine Therapiesitzung, das verstand ich jetzt. Manchmal muss man noch mal zurück. In einen Teil der Vergangenheit, den man für abgeschlossen hielt. Manchmal lässt einen diese Rückkehr auf eine dieser Entdeckungsreisen gehen, auf denen man die Dinge mit anderen Augen sieht. Oder sich selbst.
Lasst uns nicht zu vernünftig sein. Bitte!
