In der Clickbaiting-Wirklichkeit

Nachrichtenmeldungen werden immer hysterischer verpackt, um Klickzahlen zu generieren. Das macht natürlich etwas mit uns und unserem Blick auf die Welt. Wie wir immer aufgeregter werden – und was wir dagegen tun können.

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Im vergangenen Frühling fuhr ich mit dem Rennrad nach Chorin, einem brandenburgischen Ort, der sich ungefähr 60 Kilometer nordöstlich von Berlin befindet. Weil die verschiedenen WhatsApp-Gruppen, in denen ich meine Freundeskreise organisiert habe, inzwischen einen beträchtlichen Teil meines Lebens einnehmen, war der erste Impuls, dem ich nach meiner Ankunft nachgab, ein Selfie zu machen, um es in verschiedenen Gruppen zu teilen. Als ich konzentriert auf dem Display meines Handys überprüfte, wie ich mich positionieren konnte, um zum einen möglichst sportlich auszusehen, während zum anderen natürlich auch das Kloster, für das Chorin berühmt ist, auf dem Bild gut erkennbar sein musste, wurde meine Suche nach der perfekten Perspektive von einer Stimme unterbrochen.

„Fotografieren Sie mich?“, rief die Stimme, die zu einer empörten Rentnerin gehörte.

„Ich mach ein Selfie, die Kamera ist doch vorn“, rief ich, um dann nach einer kurzen, irritierten Pause nachzuhaken: „Weshalb sollte ich Sie denn fotografieren?“

Die ältere Dame holte entrüstet Luft, dann rief sie entschieden: „Um sich darauf einen runterzuholen.“

„Wie bitte?“, dachte ich. Wir sahen uns einige Sekunden lang schweigend an. Es erinnerte an ein Duell. Dann rief ich: „Überschätzen Sie sich mal nicht.“

Vielleicht musste ich mehr darauf achten, wie ich mich gab, wenn mich für brandenburgische Rentnerinnen eine Sexualstraftäter-Aura umgab, dachte ich auf dem Heimweg. Inzwischen habe ich allerdings eine andere Theorie. Ich kann mir gut vorstellen, dass die ältere Dame einfach zu viel Fernsehen gesehen hat.

Ich besitze seit Jahren keinen Fernseher mehr, aber manchmal, wenn ich meine Eltern besuche, kommt es vor, dass bei meiner Ankunft der Fernseher läuft. Irritierend ist der Eindruck, der in mir nachhallt, wenn der Fernseher ausgeschaltet wurde. Wenn ich Nachrichten oder Reportagen sehe, breitet sich in mir die Überzeugung aus, dass sich die Bevölkerung des Landes vor allem aus kriminellen Flüchtenden, Sexualstraftätern, Querdenkern, Verschwörungstheoretikern oder Neonazis zusammensetzt. Und mir.

Jetzt glaube ich, die Frau aus Chorin zu verstehen. Wenn man tagtäglich mit solchen Nachrichten überschüttet wird, ändert das den Blick auf die Wirklichkeit. Man wagt es kaum, sich vorzustellen, wie sich die Frau aus Chorin verhalten hätte, wären ihre Quellen WhatsApp- oder Telegram-Gruppen. Wahrscheinlich hätte sie mich angeschossen.

In der Digital-Detox-Wirklichkeit

Es ist keine uninteressante Frage, was es mit mir machen würde, wenn ich einen Monat lang alle Nachrichten aus meinem Alltag entfernen würde. Kein Fernsehen, kein YouTube, kein Spiegel Online, keine Social-Media-Streams. Inwieweit würde es meine Wirklichkeit ändern, wenn ich sie aus meinem Alltag löschen würde?

Ich kann diese Frage beantworten.

Wenige Tage nachdem ich mir bei einem Fahrradunfall mein linkes Jochbein an zwei Stellen gebrochen hatte, beschloss ich, mich während der Genesung in eine Digital-Detox-Phase zu zwingen. Es war erstaunlich, wie tief die Ruhe war, die sich mit den Wochen in mir ausbreitete.  Eine Ruhe, in der ich mir endlich mal die Zeit nahm, über Dinge nachzudenken, über die ich in meinem Alltag nicht nachdachte.

Aber dann – zwei Monate darauf – öffnete ich zum ersten Mal wieder Spiegel Online. Wenn man nach einer solchen Auszeit wieder mit der Normalität, die wir uns online erschaffen haben, überflutet wird, erzeugt das sofort ein Stresslevel. Ich bin von Krisen umgeben, dachte ich hilflos. Alles, was ich in den zwei Monaten über mich selbst erfahren habe, verschwand hinter Angst, Empörung und unzähligen Meinungen, mit denen mein Verstand geflutet wurde. Ich spürte, dass ich nicht mehr agierte, ich reagierte nur noch.

Diese Erfahrung hat mich irritiert. Ich begann zu recherchieren. In Interviews, die Neurowissenschaftler und Psychologen ernstzunehmenden Zeitungen gegeben haben, las ich, dass Menschen generell viel empfänglicher für schlechte Nachrichten sind. Ich las, dass ein Strom schlechter Nachrichten beeinflusst, wie wir unseren direkten Alltag wahrnehmen. Man fühlt sich immer ohnmächtiger und ausgelieferter. In diesem Overkill aus schlechten Nachrichten bildet sich eine Stimmung, auf der eigene Alltagssorgen besonders gut gedeihen könnten. Sie wirken größer als ohne vorherigen Nachrichtenkonsum.

Die Krise als Dauerzustand

Ukraine-Krieg oder Johnny Depps Scheidungsprozess. Tote Zivilisten, häusliche Gewalt, Waffenlieferungen und Sex. Wir klicken am ehesten auf Artikel, deren Überschriften unsere Ängste ansprechen, oder unseren Voyeurismus. Beides sind die besten Werkzeuge, damit die Zugriffszahlen stimmen. Sie sind Traffic-Erzeuger. Journalismus bildet die Wirklichkeit nicht ab, er dramatisiert sie. Das passiert, wenn sich Mechanismen des Marktes in Bereiche ausdehnen, in die sie sich nicht ausdehnen sollten.

Darum hört es nie auf. Die Krisen fließen ineinander. Unsere Gesellschaft scheint sich in einem permanenten Ausnahmezustand zu befinden. Und wir sind mittendrin. Kriege, Amokläufe und Zugunglücke prasseln auf mich ein, während sich die nächste Corona-Welle ankündigt. Ich springe von einer Hysterie in die nächste, während die Begriffe Inflation, Rezession und Deflation in meinem Kopf wirbeln. Darum sehen sich immer mehr Menschen von Feinden umzingelt. Das ist die Nebenwirkung, wenn permanent Ängstlichkeit geschürt wird.

Manchmal frage ich mich, inwieweit diese hysterische Berichterstattung Einfluss darauf hat, wie hysterisch unsere Gesellschaft inzwischen geworden ist. Meine Erfahrung zeigt: Wenn Leute permanent mit Hysterien bombardiert werden, werden sie irgendwann selbst hysterisch. Ihren Alltag ändert es nicht. Aber ihren Blick darauf.

Als das Land 2015 durch die Flüchtlingskrise gespalten war, habe ich gerade die Leute, die sich in Gesprächen am vehementesten gegen die Geflüchteten äußerten, gefragt, inwieweit sich ihr Leben seitdem verschlechtert hat. Es ist eine Frage, die immer ein Zögern auslöst. „Gar nicht“, sagen sie dann ganz überrascht, weil sie ja eigentlich eine andere Antwort erwartet hätten. Von sich selbst.

Manchmal frage ich mich, wie sich mein Blick ändern würde, hätte ich den Artikel nicht gelesen. Wenn sich meine Meinungen nur aus Clickbaiting-Überschriften zusammensetzten. Welche Weltbilder sich aus ihnen bilden würden.

Die Frage ist gar nicht so hypothetisch, wie sie zunächst klingt. Das entsprechende Experiment läuft ja inzwischen schon seit einigen Jahren. Vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie scheint sich die Argumentation vieler Leute vor allem aus solchen Überschriften zusammenzusetzen. Sie haben die Clickbaiting-Welt in die Wirklichkeit übersetzt. Anders als bei den Websites der Nachrichten gibt es allerdings keinen Artikel zu den Überschriften, die das Thema detaillierter beleuchten. Es geht um den Aufschrei. Um die Parole.

Was es mit uns macht

Wir leben in einer Aufmerksamkeitsökonomie. Nur wer am schärfsten polarisiert, wird wahrgenommen. In einem endlosen Krieg um Aufmerksamkeit reiht sich ein Skandal an den nächsten. Eine Breaking News ersetzt die andere.

Man kann sich in diesen Artikeln verlieren. Ich klicke auf die Überschriften, weil mein Verstand in den Texten verzweifelt nach Lösungen sucht. Aber er findet nur neue Stressauslöser, die sich in Enttäuschung auflösen, sobald ich den Artikel gelesen habe. Er hält ja nie, was die Überschrift verspricht. Es ist wie bei einem Streit, der nie zu einem Ende kommt, weil es nicht mehr darum geht, einen Konflikt zu lösen – es geht nur noch darum zu streiten.

Wenn mein Blick jeden Morgen über die Überschriften hetzt, die sich Online-Redakteure ausgedacht haben, habe ich das Gefühl, durch einen Sumpf aus Tragik zu waten, der mich immer bewegungsunfähiger macht. Ich habe gelesen, dass man das „Gelernte Hilflosigkeit“ nennt. Ein psychologisches Phänomen, bei dem das Gefühl überhandnimmt, man könne sowieso nichts ändern. Ein Gefühl, das in Passivität und Ohnmacht mündet.

Mir ist schon klar, dass die Art, in der Nachrichten aufbereitet werden, etwas mit meinem Verstand machen. Viele scheinen nicht damit umgehen zu können, wie sie aufbereitet werden. Auch mir fällt es schwer, den Impulsen zu widerstehen, die solche Überschriften auslösen – ich bin ihnen gnadenlos ausgesetzt. Ich habe nie gelernt, sie zu kontrollieren. Offensichtlich brauche ich eine Fortbildung. Niemand hat mir beigebracht, wie ich Medien auf gesunde Art konsumiere. Sie sind Fastfood für den Verstand.

Aber darum geht es doch letzten Endes. Um unseren Verstand.

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