Die To-do-Liste, die man Leben nennt

Nicht wenige behandeln ihr Alltag wie eine To-Do-Liste. Viele sogar ihr ganzes Leben. Von der Gefahr, ein gefülltes für ein erfülltes Leben zu halten

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Auf meinem Schreibtisch liegt ein Notizblock, den mir eine Freundin zu einem meiner letzten Geburtstage geschenkt hat. Erst seitdem ich ihn besitze, verstehe ich, wie wertvoll ein solcher Block für jemanden wie mich ist. Ich notiere jeden Morgen die Dinge, die ich erledigen muss. Das ist notwendig, weil ich Dinge schnell vergesse, die ich erledigen muss. Manchmal frage ich mich, ob ich sie vergesse, weil man sich nur an Dinge erinnert, die einem wichtig sind.

Meine tägliche To-do-Liste hat einen ungewöhnlich starken Effekt. Wenn ich einen der Stichpunkte durchstreiche, habe ich tatsächlich das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Das potenziert sich noch einmal, wenn ich am Abend die Seite mit den geschwärzten Punkten abreiße, um sie mit großer Geste in den Papierkorb zu werfen.

Der Unterschied zwischen „müssen“ und „wollen“

Meine tägliche To-do-Liste macht meine Erfolge sichtbar. Sie gibt mir das Gefühl, dem vergangenen Tag einen Sinn gegeben zu haben. Je länger die Liste, die ich abgearbeitet habe, desto besser. Jede durchgestrichene Erledigung gibt mir das Gefühl, den Tag ein bisschen mehr genutzt zu haben.

In diesen Momenten übersehe ich jedoch, dass ich nur Erledigungen auf meiner To-do-Liste sammle, die ich erledigen muss. Für Dinge, die ich gern mache, brauche ich keine To-do-Listen. Ich habe mir vor einigen Monaten angewöhnt, ein oder zwei Stunden am Tag zu lesen, aber mir würde nie einfallen, diesen Punkt auf meine To-do-Liste zu setzen. Man arbeitet keine Dinge ab, die einem Spaß machen.

Wieda wat jeschafft“

In meiner Familie gibt es einen Running Gag, in dem die Formulierung „Wieder was geschafft“ eine zentrale Rolle spielt. Wir verwenden die Formulierung universell, vor allem in Zusammenhängen, in denen es eigentlich absurd ist, sie zu benutzen. Wenn wir Mittag gegessen haben, sagt immer irgendjemand: „Wieda wat jeschafft.“ Wenn wir von einem gemeinsamen Spaziergang zurückkehren: „Wieda wat jeschafft.“ Wenn wir uns verabschieden: „Wieda wat jeschafft.“ 

Es ist ein Scherz, der sich nicht verbraucht. Weil wir so oft darüber lachen, fällt uns auch kaum noch die Tragik auf, die über dieser Bemerkung liegt, indem wir sie für die Dinge zweckentfremden, die man genießt.

Was für eine erbärmliche Form von Existenz wäre es, ein gefülltes Leben mit einem erfüllten zu verwechseln, denke ich dann. Dann fällt mir allerdings ein, dass es mein Alltag ist, den dieser Satz gut beschreibt. Ein Großteil meines Alltags füllt diesen Satz mit Leben. Es fällt mir nur nicht mehr auf, weil ich mich daran gewöhnt habe.

Die Technik hilft mir dabei, meine Tage zu stückeln. Mein Alltag setzt sich aus Countdowns, Stoppuhren und Weckern zusammen. Der Timer meines Smartphones ist meine meistgenutzte App. Er erinnert mich daran, wann die Wäsche fertig, mein Ingwertee durchgezogen oder wann ich beim Sport den nächsten Satz machen muss. 

Manchmal spüre ich das beunruhigende Gefühl, der Technik meine Entscheidungen zu überlassen. Ich bin wie ein Autofahrer, der sich ohne Navigationssystem nicht mehr orientieren kann. Mein Smartphone ist zu einem Sinnesorgan geworden, das mir mein Zeitgefühl abnimmt. Ich würde gar nicht mehr daran denken, dass die Wäsche fertig ist, wenn mein Smartphone mich nicht daran erinnern würde. Ohne mein Smartphone wäre ich Michael, der Unbeholfene. Eine hilflose Person. Vollkommen orientierungslos. Auch keine Entwicklung, die für mich spricht. 

Der Wert des Müßiggangs

Es gibt einen wunderbaren, beinahe ausgestorbenen Begriff, den ich liebe. Es ist der Begriff „Flanieren“. Er klingt seltsam antiquiert, sicherlich auch weil er nicht mehr in unsere Gegenwart passt, in der Müßiggang als Untätigkeit empfunden wird – als verschwendete Lebenszeit. 

Ich bin ein Flaneur. Ich genieße stundenlange ziellose Spaziergänge durch die Stadt, während ich in ein langes, ebenfalls zielloses, immer wieder neue Themen berührendes Gespräch vertieft bin. Es sind Spaziergänge, auf denen ich stundenlang meine Gedanken treiben lassen kann, als würden die festgefügten Gewohnheiten meines Alltags mein Denken nur in einem begrenzten Raum möglich machen. 

Als ich einmal meinem Freund Julian von dieser Leidenschaft erzählte, sah er mich verständnislos an. Er erklärte mir, dass er mit dieser Ziellosigkeit nichts anfangen kann. Er erkennt ihren Nutzen nicht. „Wenn ich die Wohnung verlasse, brauche ich immer ein Ziel“, sagt er. 

Wenn sich eine Tätigkeit nicht eignet, sie in einer To-do-Liste zu erfassen, empfindet Julian diese Tätigkeit nicht als Wert. Seine Tage sind vollkommen durchgeplant. Er will die Zeit, die ihm zur Verfügung steht, sinnvoll nutzen. So sieht er das. Jeden Tag geht er seinem überladenen Alltag nach. Es gibt ständig etwas zu tun. Und immer muss es schnell gehen. Alltagsoptimierung im Endstadium.

Der Alltag als To-do-Liste

Den Alltag in Zeitabschnitte zu zerstückeln, die abgearbeitet werden müssen, kann sehr beruhigend sein. Man bewegt sich mit einem Navigationssystem durch die Tage. Ein Navigationssystem aus Erledigungen, das Struktur genannt wird. Struktur gibt den Tagen einen Sinn. Einen To-do-Listen-Sinn sozusagen.

Diese Struktur ist Julians Halt. Sie nimmt ihm die Entscheidungen ab. Sie sagt ihm, was er wann zu tun hat. Sie organisiert ihren Alltag. Sie hat ihn übernommen. Täglich arbeitet er einen festgelegten Plan ab. Am Ende des Tages liegt er erschöpft im Bett und hat sich nützlich gefühlt, weil er all die Erledigungen hinter sich gebracht hat.

„Man sollte nie so viel zu tun haben, dass man zum Nachdenken keine Zeit hat“, wusste der Philosoph Georg Christoph Lichtenberg. Eine tiefe, aber aus der Zeit gefallene Wahrheit. 

Wie Julian sind viele sehr eingehend damit beschäftigt, nicht zur Ruhe zu kommen. Denn das ist die eigentliche Idee. Die vielen Erledigungen sind eine Ablenkung. Sie verdecken das Unbehagen, das unter dem Alltag liegt, als Grundierung sozusagen. Aber wenn sie zur Ruhe kommen, spüren sie es. 

Ich kenne nicht wenige Leute, die schnell nervös werden, sobald es nichts zu tun gibt. Langeweile lähmt sie. Sie brauchen die Bewegung. Sie brauchen Ziele, in deren Richtung man sich bewegen kann. Wenn man sich viel bewegt, kann das zwei Gründe haben. Entweder man ist auf der Suche oder man ist auf der Flucht. Und wenn ich es richtig einschätze, sind die meisten auf der Flucht. 

Die To-do-Liste, die man Leben nennt

Leider behandeln sie nicht nur ihren Alltag wie eine To-do-Liste – sie scheinen ihr Leben nach demselben Prinzip zu führen. Sie arbeiten die Dinge, die man auf einem Lebensweg abhaken muss, um es zu einem erfolgreichen Leben zu machen. Ihr ganzer Lebensweg ist ein Abbild perfekter Planung. Ein wohldurchdachtes, effizient realisiertes Projekt. Abitur, Bachelor, Beziehung, Eigenheim, Kinder. Man spart sich von einer notwendigen Anschaffung zur nächsten. Und kommt nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, wie notwendig die Dinge sind, die man für so notwendig hält. Man hat die Kontrolle abgegeben. Man lebt nicht sein Leben. Man wird von seinem Leben gelebt. Genau daraus bildet sich das seltsam schale Gefühl in mir, das ich mit dieser Art, sein Leben zuführen, verbinde.

Es erzählt sehr viel über unsere Gesellschaft, dass wir Dinge, die sich im beruflichen Alltag gut bewährt haben, auch in unserem Privatleben anwenden. Wer sich in die Arbeit stürzt, vermeidet damit die Arbeit, auf die es eigentlich ankommt. Seine Persönlichkeit zu erkunden, sich über die eigenen Bedürfnisse klarzuwerden, eine gesunde Beziehung zu sich selbst aufzubauen und zu pflegen. So klischeehaft einfach der vorangegangene Satz auch klingt, es gibt kaum einen steinigeren Weg. Da ist es viel einfacher, den Alltag zu organisieren, so wie man einen Job organisiert. Aber das Leben ist nun mal kein Unternehmen.

Der Journalist Sebastian Haffner schrieb in seinen klugen Erinnerungen Geschichte eines Deutschen, „dass unserem Volk das Talent zu persönlichem Glück fehle“. Diesen tragischen Umstand kompensieren wir mit Erledigungen, die wir für nützlich halten.

Vielleicht liegt ja genau dort der Punkt, an dem wir ansetzen sollten. Um herauszufinden, womit wir unser Leben füllen können, um es zu einem erfüllten Leben machen.

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