Obwohl ich meine Wohnung mag, träume ich seit einigen Jahren immer häufiger davon, umzuziehen. Als mir auffiel, wie oft diese Träume wiederkehrten, informierte ich mich Internet darüber, was sie bedeuten konnten. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss ich hinzufügen, wie fremd mir der Gedanke ist, dass eine übergeordnete Intelligenz versuchen würde, mir in meinen Träumen irgendwelche Botschaften zu übermitteln. Ich glaube eher, dass sie mir zeigen, was mein Unterbewusstsein wirklich beschäftigt. Ich träume gewissermaßen vom reinen Problem. Ein Selbstgespräch, bei dem es grundsätzlich wird. Irgendetwas wollte mir mein Unterbewusstsein offensichtlich dringend mitteilen. Es gab eine Botschaft und ein Umzug schien die geeignete Metapher zu sein.
Im Internet fand ich heraus, dass es keine einfallsreiche Metapher meines Unterbewusstseins war. „Durch das Traumsymbol „Umzug“ setzt sich der Träumende mit Sehnsüchten auseinander, die er im wachen Zustand noch nicht wahrnimmt oder beiseite drängt“, las ich. „Es weist deutlich auf den Wunsch oder die Notwendigkeit einer Veränderung hin.“ Und: „Der Umzug in eine andere Wohnung kann ein Neuanfang bedeuten, der aber dennoch mit dem Loslassen alter Lebenssituationen einhergeht.“
Das trifft meine mentale Situation ziemlich gut. Ich spüre den tiefen Impuls, etwas in meinem Leben zu ändern, ändere aber nichts. Mein Verhältnis zu meiner Wohnung fügt sich nahtlos in dieses Bild.

Ich habe meine aktuelle Wohnung immer als etwas Vorübergehendes gesehen. Als Übergang. Man darf das jetzt nicht falsch verstehen, ich mag meine Wohnung sehr. Ich spüre allerdings seit einigen Jahren, wie weit sich mein Selbstverständnis meiner jetzigen Wohnung schon entzogen hat. Das war bereits weiter. In einer Zukunft, die eine größere Wohnung notwendig machte. In einem hypothetischen Familienleben. Ich empfinde meine Wohnung als coole Singlewohnung, aber sie passt nicht zu einem Leben, in dem Kinder vorkommen. Genauso wie mein Alltag, den ich ebenfalls als eine Art Übergang empfinde. Aus ihm blicke ich in eine Zukunft, in der ich mich einrichten werde.
Wie meine Wohnung empfinde ich auch mein Leben als eine Art Zwischenstation. Ich arbeite viel, mache Pläne, ich bereite mich darauf vor, zu leben. Demnächst zu leben. Ich bereite mich darauf vor, glücklich zu sein. Ich will die passende Infrastruktur schaffen, in der mein Glück gedeihen kann. Ohne zu registrieren, dass dieser Übergang zu einem Leben geworden ist.
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Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ploppen immer neue Bereiche meines Lebens auf, die sich nahtlos in dieses Prinzip fügen. Meine Dating-App-Aktivitäten gehören dazu. Aktuell nutze ich drei. Tinder, Bumble und OkCupid. Dort habe ich nicht nur festgestellt, dass außergewöhnlich viele Single-Frauen meditieren, surfen, bouldern oder extremwandern – ich habe auch etwas über mich herausgefunden.
Meine Online-Traumfrau-Suche ähnelt meiner Online-Wohnungssuche. Als hätte ich unbewusst eine Bedienungsanleitung entworfen, die ich auf verschiedene Bereiche meines Lebens anwende. Mein Blick hastet über die Fotos und Grundrisse der Immobilienportale wie er über die Profilbilder in den Dating-Apps. Ich suche nach der einen perfekten Wohnung, die zu dem Leben passt, das ich in Gedanken gezeichnet habe. Wohnungen mit hohen, stuckverzierten Decken in Prenzlauer Berg oder Berlin-Mitte. Ich blättere gewissermaßen durch den Michael-Nast-Katalog für ein perfektes Leben.
Die Kosten der Wohnungen, die mein Interesse wecken, sind allerdings in irrsinnige Höhen geschossen. Das macht meine Wohnungssuche zu einem Spiel mit den Eventualitäten. Ich genieße es, in meinen Sehnsüchten zu baden, bevor ich die Angebote wieder wegklicke. Ähnlich bewege ich mich auf den Profilen von Dating-Apps.

Ich sehe die Fotos der Frauen und denke mir einen Menschen zu ihnen aus. Wenn die Frau mein Typ ist, wird sie schnell zu einer Person, der perfekt zu mir passt. Und wenn wir uns treffen, wird sie schnell zu einer Person, die nicht mehr zu ihren Bildern passt. Mit jedem neuen Date bildete sich die Überzeugung in mir, es wäre zu anstrengend, sich erneut in Situationen zu begeben, in denen meine Erwartungen enttäuscht werden. Ich traf mich nicht mehr mit Frauen, ich scannte nur noch die Möglichkeiten. Ich hatte Dating durch Swipen ersetzt.
Wie bei meiner Wohnungssuche genügt mir die Suche nach meiner Traumfrau selbst. Es geht ausschließlich um die Suche. Ich spiele mit den Möglichkeiten, bevor ich die Fenster wieder schließe und alles belasse wie bisher. Inzwischen haben so viele Frauen nach links gewischt, dass sowohl Bumble als auch OkCupid kaum noch in der Lage sind, Frauen zu finden, die in meine Suchkriterien passen. Das ist nicht erstaunlich, wenn man mit einem 30 Kilometer Radius um Osnabrück sucht, aber wenn man diese Suchparameter auf Berlin anwendet, ist es schon eine Leistung. Eine Leistung, die Sehnenscheidenentzündungen auslösen kann. Irgendetwas ist offenbar gekippt.
In den Eventualitäten verfangen
Ich habe mich im Auf-später-Verschieben eingerichtet. Auf Twitter habe ich mal einen Satz gelesen, der mich auf seltsame Art berührte: „Man verschiebt so viel auf später“, stand da. „Später muss grandios werden“. Der Tweet handelte von mir. Es ist erstaunlich, wie viel ich in eine nahe, nicht allzu weit entfernte Zukunft verschoben habe. Wie viele Entscheidungen ich in ein diffuses „Wenn, dann“ verschoben habe. Sätze, in denen die beiden Worte vorkamen, schlichen sich in meinen Alltag – ich nehme an, dass sie ihn inzwischen übernommen haben.

Was mache ich hier, dachte ich, und stoppte das YouTube-Video. Ich erwartete Hilfe in persönlichsten Bereichen, von Leuten, die ich wirklichen Leben meiden würde. Ich spüre einen inneren Widerstand, in die Hände von solchen Leuten zu legen, wie ich mein Leben führen soll. Von ihnen möchte ich mich einfach nicht beraten lassen. Aus irgendeinem Grund schwinden diese Gewissheiten, sobald ich mir YouTube-Filme ansehe. Offensichtlich muss ich mich nur immer mal wieder daran erinnern, welche Empfindungen sie auslösen, würden diese Leute direkt vor mir stehen.
Ineinander verschachtelte Vorbereitungsphasen
Ich nehme mir seit Jahren vor, umzuziehen, ziehe aber nicht um, weil ich davon überzeugt bin, dass die Idee, wo ich leben werde, ja auch von der Frau abhängig ist, der ich zusammenkommen werde. Wenn wir eine Familie gründen wollten, sollten wir gemeinsam entscheiden, ob unser Familienleben vor dem ruhelosen Hintergrund der Berliner Innenstadt oder dem eines beschaulichen Außenbezirks, umgeben von Wäldern und Wasser, stattfinden sollte. Ich habe seit Jahren keinen Urlaub gemacht, weil ich erst mit einer Freundin zu meinen Sehnsuchtsorten reisen wollte, einer Freundin, die ich noch nicht einmal kannte. Mit ihr wünsche ich mir Kinder, aber zuvor will ich meinem Leben ein finanzielles Fundament geben, damit ich ihnen die besten Voraussetzungen schaffen kann, um sich entfalten zu können. Alles sehr hypothetisch.
Offensichtlich hatte ich mich in unzähligen ineinander verschachtelten Vorbereitungsphasen verfangen, die einen größeren Zeitrahmen umfassten. Und jetzt begriff ich, dass es eine universelle Haltung ist. Meine Vorbereitungsphase bezieht sich nicht nur auf meine Traumfrau oder die perfekte Wohnung. Sie ist universell, sie umfasst praktisch alle Bereiche meines Lebens.
Offensichtlich ist meine Vorbereitungsphase zu meinem größten Hindernis geworden. Dieses Aufschieben, die Vorbereitung auf ein Leben, wie ich es mir wünschte, war ganz unbemerkt zu meinem Leben geworden.
Die Ein Geflecht von Hindernissen
Ich habe mich in einem engen Geflecht von Hindernissen eingerichtet, die mich bewegungsunfähig machen. Ich bin seit Jahren kurz davor. Ein Leben als Dopaminausschüttung. Ich lebe in meinen Erwartungen, ich fühle mich in ihnen wohl. Aber ich übersehe, dass ich mich so von einer hypothetischen Zukunft abhängig mache. Dass ich das Gefühl für die Gegenwart verliere. Ich setze die Dinge nicht um, ich gehe ihnen aus dem Weg, indem ich mich darauf vorbereite.
Als Autor gelte ich als analytisch und selbstreflektiert, aber eine Erkenntnis bedeutet nichts, wenn aus ihr keine Handlung entsteht. Es gab Handlungsbedarf. Schon seit Jahren. In meinen Träumen sprach mein Unterbewusstsein seit Jahren darüber.
Diese Gespräche brauchten einige Jahre, um ihre Wirkung zu entfalten, aber jetzt sind die ersten Folgen zu erkennen. Ich habe meine ganz persönliche Verhaltenstherapie, indem ich die „Wenn, dann“-Sätze aus meinem Leben entferne.
Mit meiner Wohnung habe ich angefangen. Ich habe die Maler bestellt, das neue Bett wurde im Dezember geliefert, das neue Sofa letzte Woche, die neue Küche kommt im März. Seit Oktober treffe ich mich alle zwei Wochen mit einem Therapeuten. Und nach der langen Corona-Abstinenz gewöhne ich mir wieder ein Sozialleben an, das sich aus Menschen zusammenfügt, die mir guttun, und denen ich guttue. Ich räume auf. Innerlich und äußerlich. Ich setze die Dinge in Bewegung. Ich spüre, wie sehr ich das Neue mag, in dem ich gerade beginne, mich zurechtzufinden. Es ist das neue Leben, das meine Sicht auf die Dinge ändert.
Ich träume zwar immer noch davon, umzuziehen. Aber es wird weniger. Und ich weiß auch, warum.
