80 Millionen Experten

Das Internet macht viele schnell zu Experten – denken sie. Immer mehr Leute äußern sich weit außerhalb der eigenen Kompetenz und registrieren es nicht mal. Das ist alles sehr anstrengend. Und gefährlich.

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Acht Tage nachdem der Krieg gegen die Ukraine begonnen hatte, saß ich mit Freunden auf einer kleinen Geburtstagsfeier im Bangkok Bites, einem Restaurant am Wasserturm in Prenzlauer Berg. Ich mag die Gegend, sie zählt zu meinen Berliner Sehnsuchtsorten, und ich mag den Freund, der seinen Geburtstag feierte, aber natürlich entstand keine ausgelassene Geburtstagsfeier-Atmosphäre. Der gerade ausgebrochene Krieg bestimmte unsere Gespräche.

Es hatte etwas Unwirkliches. Ich war ja immer noch dabei, den Gedanken überhaupt zuzulassen, dass in Europa ein Krieg begonnen worden war, nur ein Land von unserem entfernt, aber meine Tischnachbarn waren schon weiter. Sie waren in der Diskussion.

Es war eine dieser Diskussionen, wie sie seit einigen Jahren oft geführt werden. In denen Meinungen schnell wie Fakten klingen und auch so verstanden werden. Ich hatte den Eindruck, in die Karikatur einer politischem Talkshow geraten zu sein. Ein Eindruck, den ich inzwischen – ich wage es kaum aufzuschreiben – bei nicht wenigen politischen Talkshows ebenfalls habe. Hier hatte jeder eine Meinung, die er entschieden vertrat, während ich noch dabei war, mir eine zu bilden. Ein Gefühl, das mir seit Jahren immer vertrauter wird.

Gefühlte 80 Millionen Experten

Es ist mein deutsches Thema. Ich fühle mich von Experten umzingelt. Von selbsternannten Experten. Sie kommen in Wellen. Corona-Experten, Impfstoff-Experten, Russland-Experten, Rüstungs-Experten. Jede Krise schwemmt neue Experten mit sich. Mit dem Ukraine-Krieg schwappten innerhalb kürzester Zeit Waffen-, Kriegs- und Russland-Experten in mein Leben. Wie an diesem Tisch im Bangkok Bites.

Es war der 4. März 2021. Auch meine Tischnachbarn hatten sich schnell eingearbeitet. Große Teile der Unterhaltung fügte sich aus Namen von Rüstungskonzernen, Waffengattungen und Waffenmodellnamen zusammen. Man kannte sich offensichtlich aus. Ich saß hier mit meinem ganz persönlichen Kompetenz-Team. Kompetenzprofil: Aufrüstung.

Die deutschen Medien sind süchtig nach Experten und ihre Zuschauer auch. Experten sind beruhigend, sie können Dingen eine Ordnung geben, auch wenn sie sich wie Terroranschläge oder Amokläufe eigentlich in keine Ordnung fügen lassen. Experten geben auch mir das Gefühl, das Unbeherrschbare wäre irgendwie beherrschbar. Darum gibt es Experten für alles.

Woraus sich die Expertise meiner Tischnachbarn speiste, ließ sie für meine Begriffe allerdings schnell wackeln. TikTok schien ihre bevorzugte Quelle zu sein. Auf den Displays ihrer Smartphones leuchteten Kurzvideos, die vom Krieg handelten, das machte es noch unwirklicher. Da war ein Actionfilm zu sehen, der wirklich stattfand.

Manche Sachverhalte halte ich für zu komplex, um sie mir in 15-sekündigen Videos erklären zu lassen. Man muss so vieles berücksichtigen, dass man schon sehr vereinfachen müsste, um alles in dieser kurzen Zeitspanne unterzubringen. Aber es ist nun mal die Aufmerksamkeitsspanne, zu der uns Soziale Medien erzogen haben.

Ich beobachtete meine Freunde, die sich gierig immer neue Videoschnipsel auf den Displays ihrer Smartphones zeigten. Ich hatte den Eindruck, in den deutschen Bewusstseinsstrom zu blicken. Ich erlebte hautnah, wie wir ticken. Als Deutsche, deren Blick auf die Welt durch Soziale Medien geformt wird.

Manchmal denke ich, man sieht sich gern in der Rolle des Experten, um mitreden zu können. Und meiner Erfahrung nach wollen alle mitreden. Ihre Meinung abgeben. Ihre Expertise geben.

Keine Ahnung, aber sehr viel Meinung

Das Internet macht viele zu Experten. Laut Selbsteinschätzung. Worauf ihre Expertise beruht, bleibt im Dunklen. Ich hoffe auf gut recherchierte Bücher, Artikel oder Reportagen, aber oft sind es TikTok-Videos, Click-Baiting-Überschriften, oder WhatsApp- und Telegram-Gruppen. Ich frage nicht mehr nach Quellen. Ich habe herausgefunden, dass diese Art von Experten ohnehin gut erkennbar ist. Sie führen keine Diskussionen, um so mehr verstehen zu können. Sie diskutieren, um ihre Meinung durchzusetzen. Ein Prinzip, das auch die Diskussionen während der Corona-Jahre so mühsam gemacht hat.

Dasselbe Prinzip begegnete mir früher bei Fußball-Weltmeisterschaften. Als mir Angetrunkene beim Public Viewing die Fehler erklärten, die der Bundestrainer machte. Aufstellung, Strategie, offensichtlich alles fehlerhaft. In solchen Momenten fühlte ich mich von 80 Millionen stellvertretenden Bundestrainern umgeben. Sie haben so viel zu sagen, aber niemand hört auf sie. Vielleicht reden sie deshalb so laut.

Was mich in solchen Gesprächen immer verwirrt, ist, dass viele dieser Leute trotz ihrer Expertise nicht aussahen, als würden sie eine Halbzeit auf dem Platz ohne Herzinfarkt überstehen. Ihr Aussehen ließ zumindest keinen Lebensstil vermuten, der gut für ihr Herz, ihre Lunge oder ihre Arterien war. Ihr Selbstbild scheint das nicht zu beschädigen. Wären sie für die Entscheidungen zuständig, würden die Dinge anders laufen, sagen sie. Ich nehme an, das stimmt sogar. Ich fürchte allerdings, die Konsequenzen wären verheerend. Zumindest für die Mannschaft.

Inzwischen bin ich von immer mehr Leuten umgeben, die nicht nur den Job des Bundestrainers besser machen könnten. Anfang 2020 waren sie auf Fortbildung. Oder auf Umschulung. Welche Form der Ausbildung sie auch in Anspruch nahmen, sie hat nicht lange gedauert. Aus ihnen wurden innerhalb kurzer Zeit Impfstoff-Experten, die mich über die Fehler in den Einschätzungen renommierter Wissenschaftler unterrichteten.

Ach, ich vermisse die Zeiten der Beinahe-Bundestrainer schon sehr. Sie sind mir viel lieber als die Infektionsbiologen und Militärexperten, mit denen das Land überschwemmt wird. Ich umgebe mich lieber mit Experten, die mir angetrunken erklären, wie man Weltfußball spielt, als von Leuten, deren Expertise sich darauf bezieht, wie man besser Krieg führen kann.

In den Details verfangen

Inzwischen hatte die Diskussion meiner Tischnachbarn Russland erreicht. Es klang, als würden sie das Land unter sich aufteilen, wenn nicht sogar die Welt. Das war beunruhigend. Mir fiel wieder einmal auf, was mir seit Jahren in Gesprächen dieser Art auffällt. Es ist der Grund, aus dem ich mich nicht mehr an ihnen beteilige. Welches Thema auch behandelt wird, die Konzepte solcher Diskussionen sind sich auffallend ähnlich. Als gäbe es eine Schablone, die auf jedes neue Thema gelegt werden kann. Die Für-und-Wider-Diskussionen haben sich in den Details verfangen. Die selbsternannten Experten haben sich in ihnen verbissen.

Diskussionen über Masken, Inzidenzen oder Panzermodelle können sich schnell verselbstständigen. Die kontroversesten Diskussionen werden über Panzermodelle geführt. Anton Hofreiter von der Friedenspartei „Die Grünen“ zählt endlos Typenbezeichnungen internationaler Rüstungsprodukte in Geschwindigkeiten auf, die bei mir Schwindel verursachen. Als hätte er den Katalog eines internationalen Waffenhändlerrings auswendig gelernt.

Meiner Erfahrung nach verliert man den Blick fürs Grundsätzliche, wenn man sich in den Details verbeißt. Seit einigen Jahren gelingt es auffallend vielen, das auch zu beweisen. Ich entferne mich lieber von den Details und trete einen Schritt zurück. Darum beschäftigen mich eher Grundsatzfragen. Wenn ich sie auf solche Diskussionen lege, machen sie einen größeren Zusammenhang sichtbar.

Lieber Olaf, Pazifismus ist immer zeitgemäß

Ich finde, die Frage lautet nicht, wie man bessere Kriege führen kann, sondern wie man sie verhindert. Darum finde ich den Satz von Olaf Scholz, Pazifismus wäre nicht mehr zeitgemäß, höchst beunruhigend. Es ist der Satz eines deutschen Kanzlers. Geschichte wird schnell bedeutungslos, wenn man nicht aus ihr lernt.

Mit jedem neuen Skandal, mit jeder neuen Krise werden die Themen solcher Diskussionen ausgetauscht. Aber ihr Prinzip bleibt dasselbe. Darum führen sie nicht zu Lösungen. Wir debattieren, wie hoch Inzidenzen sein sollten, wann Masken getragen werden oder wann welche Waffentypen geliefert werden müssten. Aber solche Diskussionen sind reiner Selbstzweck. Vielleicht beruht ihr Sinn ja auch nur darauf, dass die Leute beschäftigt sind.

Meine Tischnachbarn waren beschäftigt. Ihnen geht es wie den meisten selbsternannten Experten. Aber gelegentlich muss auch ein Experte daran erinnert werden.

Liebe Expertinnen und Experten, offenbar ist es bei vielen in Vergessenheit geraten, aber Krieg ist schlecht, Waffen sind schlecht, und Töten ist schlecht. Also hört bitte auf, mir nach einer halben Stunde Internetrecherche zu erklären, wie man bessere Kriege führen kann. Recherchiert lieber, wie man ein besserer Mensch werden kann. Danke.

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