Wie du die wichtigen Dinge im Leben erkennst – bevor es zu spät ist

Wenn Dinge endgültig zu Ende gehen oder Personen unwiderruflich aus meinem Leben verschwinden, erkenne ich oft erst ihren Wert. Über letzte Male und das Selbstverständliche, das gar nicht so selbstverständlich ist.

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Es gibt Aspekte, die jahrelang in meinem Leben vorkommen können, ohne dass sie mir auffallen. Sobald ich sie allerdings einmal registriert habe, sehe ich sie ständig. In der Serie „24“, in der Kiefer Sutherland sehr viel telefoniert, fiel mir zum Beispiel eine Umgangsform auf, die mich seitdem immer wieder aufs Neue irritiert: Wenn in Filmen oder Serien Telefonate beendet werden, verabschieden sich die Leute nicht voneinander.

Im Internet erfuhr ich, dass das betriebswirtschaftliche Gründe hat. Man hat festgestellt, dass zu viele Abschiede den Handlungsfluss stören. Sie sind nicht gut für die Quote. Aber auch dieses Wissen kann den schalen Beigeschmack nicht verhindern, wenn vor allem Seriencharaktere, die ich mag, wieder mal ein Telefonat beenden, ohne sich zu verabschieden.

Die Bedeutung des Abschiednehmens

Die Vorstellung, ein Gespräch ohne Verabschiedung zu beenden, fühlt sich für mich nicht richtig an. Ich nehme an, dass meine Großmutter da eine Prägung hinterlassen hat, die wohl mein Leben lang in mein Selbstverständnis eingraviert sein wird. Sie fand es ganz schrecklich, wenn Menschen sich nicht voneinander verabschiedeten. „Man muss sich verabschieden“, sagte sie. „Vielleicht sieht man sich zum letzten Mal.“

Das sind grausame Sätze, vor allem wenn sie einem Kind gesagt werden, für das der Tod so weit entfernt ist, dass er außerhalb seiner Wirklichkeit liegt. Aber sie hat natürlich recht. Theoretisch könnte jedes Gespräch, das ich mit einem Menschen führe, der mir etwas bedeutet, unser letztes sein. Jede Begegnung könnte unsere letzte sein. Es ist eine dieser Wahrheiten, die im Alltag versinken. Auch ich übersehe sie. Aber was wäre, wenn ich sie nicht übersehen würde? Wenn ich berücksichtigen würde, dass jede Verabschiedung unwiderruflich sein könnte.

Ich kann gar nicht sagen, wie viele Dinge ich zum letzten Mal gemacht habe, ohne dass es mir klar war. Aber im November 2020, kurz bevor der zweite Corona-Shutdown meinen Alltag einfror, habe ich viele Dinge ganz bewusst zum vorerst letzten Mal gemacht. Es war eine Erfahrung, für die ich noch heute dankbar bin. 

Ich traf einige gute Freunde. Uns war klar, dass wir bestimmte Dinge zum vorerst letzten Mal machten. Das gab unseren Begegnungen eine ungewohnten Wert. Ich nahm diese Begegnungen sehr bewusst wahr. Es hatte schon etwas Sentimentales. Ich spürte, wie sehr ich es schätzte, dass diese Menschen Teil meines Lebens sind. Es lud unsere Begegnungen mit der Bedeutung auf, die sie verdienten. Ich begriff, dass etwas, das ich für selbstverständlich hielt, gar nicht so selbstverständlich war.

Seitdem stelle ich mir immer mal wieder vor, etwas, das ich für selbstverständlich halte, würde aus meinem Leben verschwinden. Es ist ein Experiment, das meinen Blick öffnet. Mir geht es wie vielen. Ich bin von Selbstverständlichkeiten umgeben, die gar nicht so selbstverständlich sind. Der Wohlstand, in dem ich lebe. Die Menschen, die Zeit mit mir verbringen wollen. Die Freiheiten, die ich genieße. All das setze ich voraus, anstatt dankbar dafür zu sein.

Wenn es zu spät ist

Es ist erstaunlich, wie sehr sich der Blick verändert, wenn man von verschiedenen Stellen seiner Biografie den eigenen Lebensweg betrachtet. Die Bedeutungen verschieben sich. Man blickt zurück und sieht die letzten Male. Das Unwiderrufliche. Es ist ziemlich unfair, aber ich erkenne erst im Rückblick, worauf es in bestimmten Situationen meines Lebens wirklich angekommen wäre.

Aber genau genommen ist es gar nicht so unfair – es ist ja alles bekannt.

Ich meine, es gibt ja unzählige Berichte von Menschen, die auf einen langen Lebensweg zurückblicken. Die viele Jahre überblicken können und erkennen, worauf sie hätten Wert legen sollen.

Ihre Erfahrungen haben gezeigt, dass es am Ende vor allem darauf hinausläuft, stabile und erfüllende Beziehungen zu pflegen. Es geht um Beziehungen zu Menschen, die einem wichtig sind und denen man wichtig ist. Es geht um Familie, ob man mit ihr verwandt ist oder nicht. Es geht um Menschen, die für einen da sind, und für die man selbst da ist. Es geht um Begegnungen mit Freunden, es geht um Liebe, Familie, Reisen. Es geht um Erlebnisse, an die man sich nach dreißig Jahren erinnert. Die Arbeit tritt in ihrer Bedeutung zurück, und auch die Vernunft sowie die Furcht davor, auch mal ein Risiko einzugehen.

Ich kenne die Berichte. Ich kenne die Schlüsse, zu denen viele am Ende ihres Lebens gekommen sind. Ich weiß, worum es mir gehen sollte. Wenn ich allerdings diese Einsichten mit den Konsequenzen abgleiche, in die mich das Leben führt, das ich seit Jahren führe, muss ich mir eingestehen, dass es eher auf das Gegenteil ausgerichtet ist.

Ich lerne offensichtlich nicht aus den Schlüssen anderer, ich lerne nicht aus ihren Erfahrungen. Ich beschäftige mich mit den Dingen erst, wenn sie mich persönlich betreffen. Und oft betreffen sie mich erst, wenn es zu spät ist.

Lächerliche Luxusprobleme

Im September vergangenen Jahres gab ich auf dem Dach der Berliner Kulturbrauerei eine meiner wenigen Lesungen, seitdem Corona den Alltag der Welt neu zusammengefügt hatte. Ich las nicht allein. Drei Autoren lasen aus ihren Büchern. Vor mir las Eric Wrede, der ein Buch über einen gesunden Umgang mit dem Tod geschrieben hatte. Während Wrede eine Textpassage vorlas, in der er beschrieb, wie er seine beste Freundin nach dem Tod ihrer Mutter begleitete, spürte ich plötzlich, wie sich die Bedeutungen verschoben.

Wenn ich die Dinge, mit denen ich mich in meinen Büchern beschäftigte, in ein Verhältnis zum Tod setzte, erschienen sie mir in einem vollkommen anderen Licht. Ich gab ihnen so viel Bedeutung, aber gemessen am Tod löste sich diese vollkommen auf. Womit wir uns tagtäglich beschäftigen – unsere Probleme, unsere Skandale und Krisen, unsere Aufregungen und Gerüchte, Neurosen, Dramen und Egos – rückte plötzlich in den Hintergrund. Ein ganz anderer Zusammenhang wurde sichtbar.

Während sich Wredes Lesung ihrem Ende näherte, fiel mir ein, dass ich nach ihm die Bühne betreten würde. „Wie – um Gottes Willen – krieg ich jetzt einen Übergang zu meinen lächerlichen Luxusproblemen hin?“, dachte ich hilflos.

Das beste Gespräch führt man oft mit Menschen, wenn jemand gestorben ist. Der Tod öffnet die Themen. Er macht die Verbindungen sichtbar, weil er die Bedeutungen verschiebt. Er rückt sie zurecht. Er lässt einen über Dinge nachdenken, über die man in seinem überladenen Alltag kaum nachdenkt. Oder gar nicht. Man nimmt sie wieder wahr. Es macht einem die eigene Sterblichkeit bewusst. Den begrenzten Zeitabschnitt, den ich so falsch nutze. Man lebt immer auch in den Konsequenzen des Lebens, das man bisher geführt hat.

Ich kann nicht sagen, dass diese Einsichten immer noch in meinen Alltag strahlen. Ihre Wirkung ließ nach, bis sie wieder im Alltäglichen verschwanden. Ich muss an sie erinnert werden. Ich nehme an, dass es darum geht. Sich Anhaltspunkte zu schaffen, um sich an bestimmte Wahrheiten immer wieder aufs Neue erinnern zu können.

Das Selbstverständliche, das nicht selbstverständlich ist

Am Wochenende habe ich meine Eltern besucht. Irgendwann sprachen wir darüber, wie dieser Besuch ablaufen würde, wenn wir wüssten, wir sähen uns an diesem Nachmittag zum letzten Mal. Danach wechselten wir das Thema, aber es hakte sich fest. Als ich mein Fahrrad aus dem Schuppen holte und es über das Grundstück schob, um aufzubrechen, wartete meine Mutter am Gartentor. Wir wandten den Kopf zum Haus, als plötzlich mein Vater in der Haustür stand, von dem ich mich eigentlich schon verabschiedet hatte.

„Ich wollte mich noch mal richtig verabschieden“, sagte er lächelnd. „Vielleicht sehen wir uns ja zum letzten Mal“. Wir gaben uns die Hand. Ein herzlicher, fester Händedruck.

„Und falls wir uns zum letzten Mal sehen“, sagte meine Mutter. „Ich liebe dich.“

Es ist ein Satz, der zwischen uns viel zu selten fällt, obwohl wir uns wirklich gut verstehen. Im Zusammenhang eines endgültigen Abschieds erscheint er schlüssig.

Es war ein seltsam schöner Moment, der eine Gänsehaut verursachte, der mich aber auch überforderte. Ich begriff, wie selten ich mich anderen öffnete – wirklich öffnete – wie sehr ich auch Menschen, die mir wichtig waren, auswich, wenn sie mir zu nah kamen. Die Situation war so ungewohnt, dass ich einige endlose Sekundenbruchteile gar nicht damit umgehen konnte. Dann sagte ich: „Ich dich auch.“

Seitdem versuche ich mir immer mal wieder vorzustellen, ich würde das, was ich gerade mache, zum letzten Mal machen. Es ist eine wertvolle Methode, die das Außergewöhnliche im Selbstverständlichen deutlich hervortreten lässt. Dem scheinbar Selbstverständlichen, das gar nicht so selbstverständlich ist.

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