Kürzlich fragte mich ein Freund am Telefon, wie es mir gehe. Ich zögerte, denn mit der Frage „Wie geht es dir?“ verbindet mich eine lange, sensible Geschichte voller Missverständnisse. Ich halte diese Frage für etwas, was sie nicht ist: für ernstgemeintes Interesse an meinen inneren Zuständen. Seit Jahren trainiere ich, sie als Floskel zu begreifen, die mit einer anderen Floskel beantwortet wird. Und manchmal spüre ich, wie sehr ich mich nach den Menschen sehne, die mich fragen, wie es mir geht, und darauf eine ehrliche Antwort erwarten.
Es hat einige Zeit beansprucht, aber irgendwann fand ich die perfekte Antwort. Sie war immer noch eine Floskel, aber sie wirkte nicht so. Sobald die Frage fiel, zögerte ich, als wäre ich von ihr überrascht worden und würde tatsächlich einige Sekunden darüber nachdenken. Um dann die leichte Spannung, die diese Kunstpause erzeugte, mit einem „Eigentlich sogar richtig gut“ aufzulösen. Als würde es mich selbst überraschen, wie ausgezeichnet sich mein Leben gerade anfühlte.
Ich beherrsche das inzwischen ziemlich gut. Trotzdem ist es mir nie so richtig gelungen, mit dieser Frage wirklich umzugehen. Meine kurzen, gut gelaunten Antworten fühlen sich nie richtig an. So gesehen ist es gerade meine Zeit: Ich kann endlich ehrlich über meine inneren Zustände sprechen. Heute kann man persönliche nicht mehr von gesellschaftlichen Zusammenhängen trennen. Alles fließt ineinander. Wem es in unserer krisenbehafteten Gegenwart „Sehr gut“ oder „Eigentlich sogar richtig gut“ geht, kann schnell als ignorant oder zynisch gelten. Die Gefühlskonventionen haben sich geändert. Endlich dürfen wir ganz offen zugeben, wie besorgt, verunsichert und orientierungslos wir uns fühlen.
Aber man muss sich vorsehen
Als mich mein Freund fragte, wie es mir ginge, machte ich den Fehler, seine Frage nach meinem Zögern mit einem gedankenlosen „Gut“ zu beantworten.
„Ist das so?“, fragte er skeptisch. „In diesen Zeiten? Mit Klimawandel, Corona, Krieg und Inflation?“
„Also ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich das mit einem eher kühlen Blick betrachte“, sagte ich. „Ist doch alles vollkommen plausibel: Das sind alles ganz schlüssige Folgen unseres Handelns.“
„Ist das nicht ganz schön zynisch?“, fragte mein Freund.
In diesem Moment fiel mir meine Ex-Freundin Anna ein. Das war kein Zufall.

Mit Anna war ich vor ziemlich genau zehn Jahren zusammen. Es war eine quälende Beziehung, denn unsere bevorzugte Kommunikationsform war der Streit. Jeder Streit ist eine Krise. So gesehen reihten sich in unserer Beziehung die kleinen, großen und mittleren Krisen aneinander. Wenn mich Freunde fragten, worüber wir gestritten hatten, entgegnete ich: „Keine Ahnung, irgendwas Unwichtiges.“
Wenn „irgendwas Unwichtiges“ in der Lage war, stundenlange Streitgespräche auszulösen, drängt sich dann doch der Gedanke auf, dass das eigentliche Thema unserer Streitigkeiten gar nicht berührt wurde. Das Thema, das unter unseren Streitigkeiten lag. Der Zustand unserer Beziehung, der immer neue Auslöser für weitere Streitigkeiten kreierte. Wir haben das allerdings übersehen, wir waren ja ständig mit einer neuen Krise beschäftigt.
Eine Paartherapeutin hat mir erklärt, es wäre sinnlos, in einer emotional aufgeladenen Situation wie einem Streit darüber nachzudenken, was man in der Beziehung generell ändern könnte. „Es geht erstmal darum, mit dem unmittelbaren Konflikt umzugehen“, sagte sie. „Erst danach macht es Sinn, das eigentliche Problem zu analysieren, das dazu geführt hat. Allerdings sehen viele keinen Bedarf mehr dafür, sobald sich die Wogen geglättet haben.“
Ich sah sie an und spürte beinahe physisch, wie diese Sätze meinen Blick auf meine Beziehung mit Anna verschoben. Wir hatten uns nie mit dem Zustand unserer Beziehung auseinandergesetzt. Nur mit den Symptomen dieses Zustands.
Wenn man die Symptome für die Ursache hält
Darum musste ich im Gespräch mit meinem Freund an Anna denken. Im belastenden Alltag meiner damaligen Beziehung gab es erstaunlich viele Parallelen zu unserer belastenden Gegenwart. In einer wahnsinnig gewordenen Welt, in der sich eine Krise an die andere reiht, beschäftigen wir uns vor allem mit den Krisen selbst.
Wie Anna und ich, die sich fortwährend stritten, ohne den wirklichen Grund zu erforschen, aus dem sich alle Streitigkeiten bilden. Wir agierten nicht mehr in unserer Beziehung, wir hatten die Kontrolle an unsere toxischen Beziehungsdynamiken abgegeben. Wir beschäftigten uns sehr eingehend mit jeder neuen Krise, übersahen jedoch, was in diese Krisen geführt hatte.
Wie unsere politischen Entscheider, die nur noch Schadensbegrenzungspolitik zu betreiben scheinen. Mit hastig herbeiimprovisierten Behelfslösungen agieren sie nicht mehr – sie reagieren nur noch. Sie versuchen, Krisenherde zu löschen und jedes gelöschte Feuer empfinden sie als Erfolgserlebnis. Aber der Grund, aus dem die Brände entstehen, bleibt unangetastet.
In unseren Streitigkeiten ging es Anna und mir ausschließlich darum, den unmittelbaren Konflikt zu lösen. Aber sobald dieses konkrete Problem behoben wurde, versäumten wir, an dem eigentlichen Konflikt zu arbeiten. Weil wir diese Voraussetzung nicht änderten, führte das zu weiteren Krisen. Und diese hielten wir für ein gänzlich anderes Problem, das mit dem vorherigen Streit nichts zu tun hatte. Wir behandelten die Symptome wie Ursachen. Um nach der Krise wieder weiterzumachen wie bisher.

Als in den letzten Jahren immer mehr Beziehungen in unserem erweiterten Bekanntenkreis zerbrachen, hatte ein guter Freund die Gründe schnell identifiziert. „Dit liegt an Corona“, sagte er. „Die Einschränkungen, die Isolation, und der Stress, wenn du Homeoffice, Homeschooling und Privatleben mischst. Diese Belastung, das macht was mit einem.“
Ich machte eine skeptische Geste, denn ich fürchte, es ist nicht ganz so einfach, auch wenn es auf den ersten Blick schlüssig erscheint. Aber dass eine Beziehung während der Corona-Einschränkungen zerbrach, erzählte doch vor allem etwas über den Zustand der Beziehung. Die Corona-Einschränkungen waren lediglich ein Katalysator. Sie haben einen Prozess beschleunigt, der vorher schon existierte.
Und diese Wirkung hatte Corona nicht nur auf Beziehungen.
In den Monaten der Corona-Krise verfolgte ich ein Lehrstück, in dem Mängel unserer Gesellschaft freigelegt wurden. Bisher war mir gar nicht so klar gewesen, wie überlastet die Krankenhäuser schon vor Corona waren, weil sie profitorientiert arbeiten müssen. Zum ersten Mal erschien mir unmittelbar greifbar, welche Folgen es haben kann, wenn sich ein Gesundheitssystem wirtschaftlichen Zwängen unterordnen muss. Wie ein grelles Scheinwerferlicht leuchtete dieses Lehrstück Bereiche aus, die bisher in einer beruhigenden Dunkelheit verborgen lagen. Plötzlich entstand ein klares Bild, auf dem zu sehen war, dass unsere Form der Marktwirtschaft offenbar so anfällig ist, dass sie nur durch eine geringfügige Änderung der Gegebenheiten vollkommen aus den Fugen geraten konnte. Schon ein kleines Ungleichgewicht ließ die soziale Absicherung ganzer Bevölkerungsgruppen wegbrechen.
Die wirklichen Versäumnisse
Das Corona-Lehrstück zeigte deutlich, wo Verbesserungen vorgenommen werden müssten. Aber ich verfolgte sie nicht wie ein Lehrstück, eher wie eine endlose Netflix-Serie. The Walking Dead als Live-Version. Mein Blick hetzte jeden Morgen über Artikel, Diagramme und immer steilere Kurven. Ich hatte mich in den Details verfangen. Und wenn ich verfolgte, was in Talkshows, auf Social Media und in WhatsApp-Gruppen diskutiert wurde, schien es nicht nur mir so zu gehen. Die Debatten über Maskenpflicht, Inzidenzzahlen und Verschwörungstheorien schoben sich über die wirklichen Versäumnisse. Bis sie unsichtbar geworden waren.
Aber was sind die wirklichen Versäumnisse?
Seit Jahren beschäftigt es unsere Gesellschaft, warum es immer mehr Menschen auf die Straße treibt. Man stellte Theorien auf, fand allerdings nur heraus, dass die Gründe vielfältig sind. Aber welche politischen Ansichten die Demonstrierenden auch hatten, es gibt dann doch einen Grund, der die meisten vereint: Die Angst, dass man sich das Leben nicht mehr leisten kann – Existenzangst also.
Die Flüchtlingskrise, die Corona-Krise, die Energiekrise sind auf einer tieferen Ebene vor allem Existenzangstkrisen. So gesehen ist die eigentliche Frage, die wieder und wieder mit immer neuen Themen behandelt wird, die soziale Frage. Vielleicht wäre es ja klug, dort anzusetzen.
Eine Bewusstseinsveränderung der Gesellschaft
Manchmal stelle ich mir vor, welche Wirkung beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen auf das Selbstverständnis hätte, mit dem ich ins Leben blicke. Was würde es mit mir machen, wenn ich mich nicht um Altersarmut sorgen müsste? Wie würde ich mein Leben gestalten? Welche Risiken würde ich eingehen? Welche Fragen würde ich mir stellen, wenn die Aspekte meines Lebens nicht vorrangig um Geld kreisen würden? Fehlende Existenzangst würde unser aller Bewusstsein vollständig ändern und damit das Bewusstsein unserer Gesellschaft. Und wenn ich es richtig einschätze, hat eine Gesellschaft, in der seelische Erkrankungen zu einer Epidemie geworden sind, eine Bewusstseinsveränderung ziemlich nötig.
Ein befreundeter Psychologe hat mir mal gesagt, dass der Mensch Krisen braucht, um zu wachsen. „Erst dieses Wachstum lässt uns das eigene Leben rückblickend als gelungen empfinden“, sagte er. „Dieses Bewusstsein stellt sich allerdings erst ein, wenn wir aus den Krisen lernen.“
Und genau das ist ein Versäumnis, das ich mit den meisten teile, dachte ich. In der Liebe, im Leben und in der Gesellschaft: Endlich zu lernen, aus unseren Fehlern zu lernen.
