Warum wir nicht glücklich sind

Obwohl ich es eigentlich besser weiß, halte ich Dinge für bedeutend, die sich am Ende meines Lebens als unwichtig herausstellen werden. Warum ich, wie so viele, dazu neige, die kostbarsten Dinge im Leben zu übersehen.

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Die App, die auf meinem Smartphone die Fotos sammelt, die über die Jahre entstanden sind, besitzt eine Funktion, die mich immer mal wieder beschäftigt. Weniger aus technischen, eher aus philosophischen Gründen. In der Rubrik „Für dich“ fasst diese App verschiedene Bilder zu Rückblicken zusammen. Die Gründe für die Auswahl dieser Fotos sind mir oft klar, es kommt aber auch nicht selten vor, dass sie mir vollkommen willkürlich und undurchsichtig erscheint. Dann frage ich mich, inwieweit diese ganz spezielle Zusammenstellung der Bilder einem tieferen Sinn folgt.

Ich nehme an, dass die Technologie noch nicht so weit entwickelt ist, dass Algorithmen es verstehen, die Bilder auf meinem Smartphone in einen Zusammenhang meines Lebens zu setzen, den ich bisher noch nicht verstanden habe. Trotzdem frage ich mich, wie diese scheinbar ungeordneten Bilder verbunden sein könnten. Welche wahre Bedeutung die Momente, in denen diese Fotos entstanden, für mein Leben haben.

Ich habe die Rolle, die bestimmte Momente für mein Leben hatten, nur sehr selten in diesen Momenten selbst erkannt. Die entscheidenden Ereignisse erkenne ich oft erst im Rückblick, wenn ich sie nach ihren Folgen beurteile. Ein harmloser und vollkommen unscheinbarer Vorfall kann eine Folge von Ereignissen in Gang setzen, die ein Leben ändern.

Es gibt allerdings zwei Ereignisse in meinem Leben, die ich ganz klar als entscheidende Wendepunkte bestimmen kann. Ohne sie wäre mein Leben vollkommen anders verlaufen.

Die entscheidenden Momente meines Lebens

Als mich die Frau verließ, die den ersten Liebeskummer meines Lebens auslöste, war ich 21. Ich fiel in ein dreimonatiges Loch voller Selbstmitleid, bis es einem damaligen Freund zu viel wurde. „Du musst dich zusammenreißen!“, rief er schroff. „Bewirb dich doch bei einer Werbeagentur.“ Ich stellte eine Auswahl der Designs, die ich für ein Plattenlabel entworfen hatte, in einer Mappe zusammen und fuhr nach Zehlendorf, wo in einer weißen Villa am Mexikoplatz das Bewerbungsgespräch stattfand.

Der Creative Director blätterte durch meine Arbeiten und rief plötzlich euphorisch: „Ich sehe hier einen ungeschliffenen Diamanten. Wann können Sie anfangen? Montag?“ Mit diesen entschiedenen Worten begann ich, in Werbeagenturen zu arbeiten. Ohne die Trennung von meiner Freundin wäre es nie dazu gekommen. So gesehen, musste ich ihr dankbar sein.

Siebzehn Jahre später, am 1. Februar 2015, zog meine Ex-Freundin Eva aus meiner Wohnung aus. Dieser Tag hat sich tief in mir eingebrannt. Weil er eine Befreiung war. Wir hatten uns schon vier Monate zuvor getrennt, aber ich hatte ihr vorgeschlagen, weiterhin bei mir zu wohnen, bis sie etwas Neues gefunden hatte. Naiv wie ich war, ging ich davon aus, sie würde sich schnell um eine neue Wohnung bemühen, gerade weil es nach einer Trennung gesünder war, sich räumlich nicht unbedingt nah zu sein. Eva schien das allerdings entspannter zu sehen. Sie ließ sich Zeit. Vier Monate erstarrte mein Leben, es war ein unerträglicher Schwebezustand.

Aber am 1. Februar war es dann endlich soweit. Ich war der motivierteste Umzugshelfer, damit es schneller ging. Als sich nach unserer Verabschiedung die Fahrstuhltüren hinter mir geschlossen hatten, spürte ich den sanften, erlösenden Druck der Bewegung, die mich nach oben brachte. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, würde ich nicht nur meine Wohnung betreten. Ich betrat ein neues Leben.

Zweieinhalb Monate darauf, an einem Mittwoch im April, erschien die dritte Kolumne, die ich für das Onlinemagazin „Im Gegenteil“ schrieb. Diese Kolumne trug den Titel „Generation Beziehungsunfähig“, wurde innerhalb einer Woche von einer Million Menschen gelesen. Ich hatte bereits zwei Bücher veröffentlicht, aber dieser Text änderte meine Schriftstellerkarriere. Wäre ich mit meiner Ex-Freundin noch zusammen gewesen, hätte ich diesen Text nie geschrieben. Wahrscheinlich wäre er auch nicht entstanden, hätte ich nicht entschieden, sie trotz unserer Trennung übergangsweise bei mir wohnen zu lassen. Rückblickend betrachtet, musste ich also auch Eva dankbar sein.

Die entscheidenden Momente, die meinem Leben eine neue Richtung gaben, scheinen immer mit Trennungen verbunden zu sein. Das habe ich lange Zeit angenommen, und ich konnte gut damit leben. Dann starb der Vater einer Freundin.

Der Unterschied zwischen „Keine Zeit haben“ und „Sich keine Zeit nehmen“

Er starb sehr unerwartet und sie warf sich vor, dass sie sich zu selten gesehen haben.

„Wir haben auch kaum telefoniert“, sagte sie mit traurigem Blick. „Aber ich hatte mit der Arbeit zu viel zu tun. Ich hatte keine Zeit.“

Ich nickte, denn das sind Sätze, die ich nachvollziehen kann. Sie gehören zu den Argumenten, die auch ich oft benutze. Plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Plötzlich hatte ich das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. 

„Das stimmt nicht“, sagte ich. „Du hast dir nicht die Zeit genommen.“ Das ist eine unbarmherzige Formulierung, aber wie gesagt: Ich meinte damit auch mich. Meine Freundin konnte mit ihrer Ausrede am besten leben, aber letztlich war ihr die Arbeit wichtiger als die Beziehung zu ihren Eltern zu pflegen. Sie hatte ihre Prioritäten gesetzt. Sie gestand es sich nur nicht ein.

Im Gegensatz zu meiner Freundin habe ich ein enges und gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Aber ich habe es mir ebenfalls in den Ausreden bequem gemacht. Sie beziehen sich nur auf Beziehungen in anderen Bereichen.

Wenn alte Menschen ihr Dasein überblicken, wechseln sie oft den Filter, durch den sie ihre Lebensjahre betrachten. Erst wenn sie durch diesen Filter zurückblicken, erkennen sie, wie sie ihr Leben hätten gestalten und worauf sie hätten Wert legen sollen. Der Blick durch diesen Filter setzt die Vergangenheit neu zusammen. Dinge, die einem jahrelang so überaus wichtig erschienen, werden plötzlich bedeutungslos.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und versuche mir vorzustellen, wie ich am Ende meines Lebens mein Dasein überblicke. Mit einem Filter, der die Prioritäten verschiebt. In der die Arbeit nicht den Stellenwert hat, den ich ihr gebe. In dem ich die Trennungen von meinen Freundinnen nicht als Befreiung gesehen habe, um mehr Zeit für die Arbeit zu haben, sondern als das Aufgeben einer Beziehung, an der man hätte arbeiten können, weil man das nun mal so macht, wenn man eine tiefgehende Verbindung zu einem anderen Menschen kultiviert.

Wenn ich meine vergangenen Jahre durch diesen Filter betrachte, ordnen sich auch die Zusammenhänge neu. Alles verschiebt sich, ich blicke auf ein unerwartetes Leben. Auf ein entstelltes Leben. Ich sehe einen Menschen, der Entscheidungen auswich, der andere auf Distanz hielt, und vor allem sich selbst sah. Der sich gegen alles entschied, das seine Arbeit beeinträchtigte. Würde ich diesen Filter auf mein Leben anwenden, hätte ich gnadenlos versagt.

Die Filtereinstellungen des Lebens

Natürlich könnte ich der Mensch sein, der Wert auf Familie und tiefgehende Beziehungen zu anderen gelegt hätte. Aber offensichtlich passt dieser Mensch nicht zu dem Filter, mit dem ich ins Leben blicke. Ein Filter, der jede einzelne meiner Entscheidungen beeinflusste. Änderte ich die Filtereinstellungen, würde ich auch andere Entscheidungen treffen.

Ich dachte noch einmal an meine Freundin, deren Vater gestorben war. Sein Tod gab den Blick auf ihre Versäumnisse frei. Sein Tod änderte den Filter, mit dem sie ihre Beziehung der letzten Jahre betrachtete.

Aber was geschieht, dachte ich, wenn man es umkehrt? Inwieweit würde es meine Zukunft neu ordnen, wenn ich den Filter, mit dem ich irgendwann wehmütig auf meine Nachlässigkeiten der Vergangenheit blicken würde, schon jetzt anwende? Wie würde es mein Leben ändern, meine Sicht auf die Dinge und die daraus resultierenden Entscheidungen?

Schon während ich mir diese Fragen stellte, spürte ich es. Ich spürte, dass mich nur eine Entscheidung von dem Ereignis trennte, das ich irgendwann einmal als dritten Wendepunkt meines Lebens bestimmen könnte. Indem ich die Filtereinstellungen anpasste, mit denen ich ins Leben blickte.

Vielleicht würden dann auch die so rätselhaft zusammengestellten Fotos auf meinem Smartphone ein schlüssiges Ganzes ergeben. Verbunden durch etwas, das ich jahrelang übersehen hatte. Etwas sehr Kostbares, das ich plötzlich sah.

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