Wenn das Smartphone das Leben ersetzt

Von der Sucht, jeden Ausschnitt des eigenen Lebens nach Online-Verwertbarkeit zu prüfen. Wie viele inzwischen zu zwanghaften Glücksdarstellern geworden sind – und was das mit ihnen macht.

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Ich besitze einen Karton, in dem ich die Fotos aufbewahre, die sich über die Jahre angesammelt haben. Die Bilder sind nicht geordnet oder sortiert, die Zeiten meines Lebens liegen ungeordnet und mischen sich. Dadurch ist das Betrachten der Bilder immer von Zufällen bestimmt. Manchmal fällt mir ein Bild in die Hand, das eine schon lange verblasste Erinnerung heraufholt. Ich betrachte das Bild und frage mich, ob ich überhaupt noch einmal daran gedacht hätte, wäre mir nicht genau dieses Foto in die Hände gefallen. Fotos sind die Verbindung zu meiner Vergangenheit, ein Auslöser, sich die damaligen Momente noch einmal zu vergegenwärtigen. Sie sind wertvolle Anhaltspunkte, um meine Erinnerungen zu bewahren.

In dem Film Lost Highway verneint Bill Pullman die Frage, ob er eine Videokamera besitzt, mit dem wunderbaren Argument: „Ich erinnere mich an die Dinge lieber auf meine Art.“

Das ist ein Satz, der mich auf eine seltsame Weise berührt. Ich glaube, ich verstehe, was er meint. Ein Foto, dieser Sekundenbruchteil eines Lebens, gibt einem noch Spielraum für die damit verbundenen Erinnerungen, die diesen kurzen Ausschnitt umgeben. Aber ein Film nimmt einem die Erinnerungen ab. Er tötet gewissermaßen die Fantasie. Ich frage mich, was das über unsere Zeit sagt, in der wir mit unserem Smartphone praktisch alle eine Videokamera dabeihaben.

Diese Kamera ist oft im Einsatz, auch weil die Algorithmen sozialer Netzwerke Videos bevorzugen. Videos sind die Chance auf Reichweite. Und vielleicht liegt es auch daran, dass sich der Zwang vieler, alles aufzunehmen, um es dann einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, irgendwie verselbstständigt hat. Es ist eine Sucht geworden, zu zeigen, wie aufregend, emotional oder bewusst das eigene Leben ist. Als würden wir uns in einem anhaltenden Wettbewerb der Darstellung unseres Glücks befinden. Man könnte sich jetzt natürlich fragen, warum man ständig anderen und vor allem sich selbst beweisen will, wie gut es einem geht. Wenn man wirklich glücklich ist, muss man es ja eigentlich nicht beweisen.

Ich finde auch, manche Momente sollten lieber in der Unschärfe bleiben, um sich selbst die Chance zu geben, sie zu verklären. Aber die Technik hat offenbar die Kontrolle übernommen. Die Überlegungen, mit welchen technischen Mitteln man den Moment am besten aufnimmt, schieben sich gnadenlos über die Erwägungen, ob er generell für die Nachwelt festgehalten werden sollte.

So ein unreflektierter Dokumentationszwang kann schnell mal ins unfreiwillig Komische abdriften. Wie zum Beispiel die Unterhaltung, an der ich einmal teilnahm, mit lauter Vätern und einem werdenden Vater.

„Der größte Fehler, den wir gemacht haben, war es, bei der Geburt nicht genug gefilmt zu haben“, sagte Sebastian, dessen Freundin eine bekannte Mama-Bloggerin ist.

Wie bitte?, dachte ich. Mir fiel ein, dass es ja als erwiesen gilt, dass Männer die Strapazen einer Geburt nicht einmal überleben würden. Es ist gewissermaßen eine Nahtoderfahrung, die da dokumentiert wird. Man will aber doch auch attraktiv aussehen, wenn man gefilmt wird. Gerade als Mama-Bloggerin. Ich kenne nicht wenige Frauen, die mir in bedeutungsvollem Ton gesagt haben: „Du hast mich noch nie ungeschminkt gesehen.“

„Man bräuchte jemanden, der das Make-up macht“, sagte ich, um einen Scherz zu machen.

„Eine Stylistin hatten wir nicht“, sagte Sebastian ernst. „Aber zwei Kameraeinstellungen. Die Wahl der Kameraeinstellungen ist ganz wichtig. Und noch wichtiger ist: Wie weit will man gehen, wenn es um die Nahaufnahmen geht?“

Nahaufnahmen?, dachte ich hilflos.

Ich meine, es ist natürlich schön, Erinnerungen zu haben. Aber warum um Gottes Willen sollte man Geburten dokumentieren? Ich weiß auch gar nicht, inwieweit Soziale Medien solche Videos überhaupt zulassen. Vor allem, wenn sie viele Nahaufnahmen enthalten. Aber auch generell fällt mir auch nicht ein, zu welchen Anlässen man sich solche Filme ansehen würde. Ich frage mich auch, ob man das als Kind sehen möchte – seine eigene Geburt – oder ob es einen eher verstört.

Meine Geburt wurde nicht gefilmt. Ich frage mich allerdings, was es mit meiner Psyche angerichtet hätte, wenn ich bei jedem Besuch, den meine Eltern bekamen, das spektakuläre Video meiner Geburt hätte ertragen müssen. Ich hätte es vermutlich nicht besonders gut verkraftet. Für ein Trauma wäre das ausreichend gewesen.

Ich muss gestehen, noch nie in die Lage geraten zu sein, mir die Geburtsvideos meiner Freunde ansehen zu müssen. Sie zeigen mir glücklicherweise nur kurze Filme auf ihren Handys, auf denen ihre Kinder in niedlichen Situationen zu sehen sind. Dieselben Videos werden sie ihren Kindern wahrscheinlich in 15 Jahren zeigen und wehmütig sagen: „Du warst so ein süßes Kind.“

„Wie sind die Selfies geworden?“

Ich muss allerdings zugeben, dass das Bedürfnis, in meinem Alltag Dinge zu entdecken, die ich online verwerten könnte, auch mich fest im Griff hat.

Als ich an einem Abend Anfang Oktober meinen Hauseingang verließ, blieb ich unwillkürlich stehen, um den Anblick auf mich wirken zu lassen. Durch den Sonnenuntergang waren die Fassaden der Häuser in ein unwirklich rotes Licht getaucht. Es war beinahe, als hätte sich die Realität verschoben. Ich weiß, dass das nicht unbedingt für mich spricht, aber ich verweile in solchen Momenten nicht, sondern mein erster Gedanke ist, ein Foto davon zu machen. Ich machte minutenlang Bilder, die das Schauspiel leider nicht so einfingen, wie ich es mir wünschte. Eine halbe Stunde später erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht einer Freundin, die nur aus einer Frage bestand: „Na, wie sind die Selfies geworden?“

Eine ihrer Freundinnen hatte mich beim Fotografieren beobachtet. Ich rechtfertigte mich schnell. Wer auf eine so aufsehenerregende Art Selfies machen würde wie ich, – ich halte das Smartphone entweder sehr tief, oder sehr hoch, ich falle auf die Knie oder stelle mich auf Bänke und vergesse die Passanten um mich herum –, müsste schon ein ernsthaftes Selbstwahrnehmungsproblem haben. Aber heutzutage geht man offensichtlich erst einmal davon aus, dass sich die Leute selbst fotografieren, wenn sie eine Kamera in der Hand haben.

Bedauerlich wird es, wenn das Dokumentieren die schönen Momente ersetzt.

Mein Silvester vor einigen Jahren ist da ein sehr gutes Beispiel. Wenn man auf dem Dach meines Hauses steht, hat man eine großartige Aussicht, und in dieser Silvesternacht habe ich hier oben zum ersten Mal mit meiner damaligen Freundin gefeiert. Als das neue Jahr begann, umarmten wir uns allerdings nicht, wie man das ja eigentlich so macht – und der Grund dafür waren ihre 70.000 Instagram-Follower.

Der Ausblick über das nächtliche Berlin mit dem Feuerwerk war so überwältigend, dass sie es mit einer beunruhigenden Besessenheit aufzeichnete. Sie verbrachte die ersten zwanzig Minuten des Jahres praktisch mit ihrem Smartphone, dem wichtigsten Bestandteil ihres Lebens. Als sie das Video dann gepostet hatte, war ich dran. Ich war ein bisschen enttäuscht, weil ich mir eigentlich gewünscht hatte, sie um Mitternacht zu umarmen, als Symbol unserer gerade erblühenden Beziehung, sozusagen.

Aber was soll ich sagen, die Aufrufe des Videos waren enorm. Meine Freundin überprüfte die Zugriffszahlen in 15-Sekunden-Abständen, mit einem Blick, der auch erzählte, dass sie alles richtig gemacht hatte. Zumindest hatte sie ihren Followern das Gefühl vermittelt, an einem idealen Moment teilgenommen zu haben.

Vielleicht geht es ja nur noch darum. Inzwischen.

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