Auch wenn es seltsam klingen mag, ich frage mich manchmal, was mein Müll über mich erzählt. Wenn ich beispielsweise Essen zubereite, überrascht mich jedes Mal aufs Neue, wieviel Verpackungsmüll die Zubereitung einer Mahlzeit hinterlassen kann. Das entspricht nicht meinem umweltbewussten Selbstbild. Es hat schon gute Gründe, warum FBI-Agenten in den Filmen und Serien ersteinmal den Müll Verdächtiger nach Anhaltspunkten durchsuchen, um sie überführen zu können.
Es kann ein aufschlussreicher Perspektivwechsel sein, das eigene Leben danach zu beurteilen, wenn man es an den Spuren misst, die man hinterlässt. Er zeigt mir die Folgen meines Lebens. Vor allem die uneingestandenen. In letzter Zeit frage ich mich oft, welche Person durch die Spuren entsteht, die ich hinterlasse. Es ist wie ein Persönlichkeitstest, bei dem die Fragen so beantwortet werden, dass einem die Antworten nicht gefallen. Die Spuren, die ich dabei hinterlasse, erzählen mir, welche Art Mensch ich bin. Es sind nicht meine Worte, die die Person abbilden, die ich bin, es sind meine Handlungen.
Und das trifft nicht nur auf meinen Müll zu.
Der Porno-Michi
Vielleicht lässt sich die Frage danach, wer ich bin, anhand der Spuren beantworten, die ich hinterlasse. Zum Beispiel frage mich nicht selten, welche Person durch die Spuren entsteht, die durch meine Bewegungen im Internet entstehen. Wie ähnlich sie mir ist. Oder ob sie mir näher ist als der Blick, mit dem ich mich selbst betrachte. Vor allem seitdem mir praktisch jede Website, die ich besuche, zuruft, wie wichtig deren Betreibern meine Privatsphäre ist. Man muss viele Checkboxen anklicken, wenn man sich heutzutage im Internet bewegt. Man muss ständig Dinge bestätigen, annehmen oder freigeben. Das ist meiner Erfahrung nach selten ein gutes Zeichen. Ich bestätige trotzdem, ich nehme an und gebe frei, damit an irgendeinem verborgenen Ort von Algorithmen ein Charakterprofil von mir erstellt werden darf.
Es ist erschütternd, welche Michael-Nast-Version sich da anhand meiner digitalen Spuren zusammenfügte. Nach den Mails in meinem Spam-Ordner zu urteilen, haben die Algorithmen eine Person erkannt, die hauptsächlich von Komplexen zerfressen ist.
Eine Person, die, obwohl sie mit Erektionsproblemen zu kämpfen hat, erwägt, penisverlängernde Eingriffe in Ländern der Dritten Welt durchführen zu lassen, und annimmt, nur bei osteuropäischen Frauen, die in Deutschland einen Ehepartner suchen, die Chance auf etwas Zärtlichkeit zu haben. Es ist schon ein auffallend tragisches Bild, das in diesen Spam-Mails von mir gezeichnet wird. Für die Algorithmen war ich offensichtlich nicht Michael Nast, sie sahen in mir eher eine Art Porno-Michi.

Ich frage mich oft, wie gut ich mich überhaupt kenne. Natürlich ist das eigene Selbstbild immer eine Illusion, aber vielleicht ist mein Blick auf mich selbst besonders abwegig. Solche E-Mails werden ja nicht grundlos versandt. Irgendetwas an meinem Surfverhalten muss plausibel machen, sie mir zu schicken. Vielleicht begann ja mit diesem Schritt endlich meine große Selbstauseinandersetzung, die ich schon seit Jahren aufschob.
Beginnen konnte ich damit, die Seiten zu sichten, die ich im Internet besucht habe. Ich glaube, es gibt kaum etwas Intimeres als den eigenen Browserverlauf. Er kann einem viel Überraschendes über sich selbst erzählen. Wenn mein Internetanbieter meine Internetverläufe von einem Psychologen auswerten lassen würde, wäre interessant, was für ein Mensch da gezeichnet würde.
Ich habe bereits einige Male versucht, mich meinem Chrome-Gesamtverlauf zu stellen. Mein Blick scannt die endlose Liste mit einem seltsamen Gefühl, als wäre es der Verlauf eines anderen. Gravierende Selbstzweifel entstehen allerdings erst, wenn ich versuche, anhand der Dinge, die ich bei Google suche, mehr mich selbst herauszufinden.
Gerade habe ich es ausprobiert. Meine letzten fünf Suchanfragen lauteten:
So gefährlich ist es, Sport mit Restalkohol zu machen.
Love Bombing: Wie du es erkennst und richtig reagierst
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Helene Fischer Karrierende
Helene Fischer Karrierende? Wer – um Gottes Willen – war dieser Mensch? Offensichtlich nicht derjenige, für den ich mich halte. Oder für den ich gehalten werden will.
Ich weiß natürlich, dass nur die digitalen Details nicht ausreichen, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Aber der generelle Ansatz ist schon richtig, meinen Blick auf die Spuren zu richten, die ich hinterlasse. Zum Beispiel im Leben anderer.
Die Spuren im Leben anderer
„Jede Beziehung ist ein Experiment, dessen Teilnehmer nicht wissen, was der Gegenstand des Experiments ist.“ Das hat der britische Psychologe Adam Philips einmal gesagt. Ein aufschlussreicher Satz, an den ich oft gedacht habe.
Vor allem, als ich mit einer Frau zusammen war, die es drei Monate zuvor geschafft hatte, sich aus einer achtjährigen toxischen Beziehung zu lösen. Drei Monate sind eigentlich eine zu kurze Zeit, um eine neue Beziehung zu beginnen. Ihr Experiment war ja nicht beendet, als sie ihn verließ. Die Trennung war nur ein Symptom. Das eigentliche Ergebnis beurteilte man nach der Wirkung, mit der die Beziehung in das weitere Leben strahlt. Wie diese einen geformt und verändert hat.
Sobald wir zusammengekommen waren, begannen die Jahre mit ihrem Exfreund ihre Wirkung zu entfalten. Wenn ich Sarah fragte, ob ich etwas auf ihrem Handy googeln dürfe, unterstellte sie mir, ihr Handy kontrollieren zu wollen. Wenn ich einige Stunden lang nicht die Zeit fand, auf eine ihrer Nachrichten zu antworten, unterstellte sie mir, sie zu ignorieren, um sie zu bestrafen. Obwohl sie es nicht wollte, schloss sie von ihrem Exfreund auf mich. Ihr Unterbewusstsein unterstellte meinem Verhalten dieselben Absichten, die es von ihm gelernt hatte. Verletzungen, die ihr in dieser Beziehung zugefügt wurden, hatten ihren Blick auf Männer geformt. Sie interpretierte so viele Eigenschaften ihres Exfreundes in mein Verhalten, dass ich verstand, dass ich nur ein Stellvertreter war. Eine Projektionsfläche, an der sich ihr Unterbewusstsein abarbeitete. Glücklicherweise kannte ich mich dank ihrer Schilderungen in der Beziehung mit dem Original ziemlich gut aus. Das half mir, die Dinge einzuordnen und nicht persönlich zu nehmen.

Einmal sagte sie mir, wie dankbar sie mir war. Ohne mich hätte sie die Monate nach der Trennung nicht verkraftet. Obwohl es ein Kompliment war, sah ich sie traurig an. Denn ich verstand, dass das meine Rolle in dem Experiment war, das uns betraf. Ich war in einer Zeit für sie da, in der es ihr schlecht ging. Ich war ihr Halt. Eine Ablenkung. Ein Schmerzmittel, das half, die Symptome zu überdecken, deren Ursache Sarah noch nicht verarbeitet hatte. Ungefähr einen Monat darauf wirkte ich nicht mehr. Sarah ging es immer schlechter, sie stand neben sich, zerdachte die Dinge. Und ich konnte nichts tun, was das änderte.
Seitdem frage ich mich immer mal wieder, welche Spuren ich im Leben meiner Exfreundinnen hinterlassen haben. Welche Auswirkungen mein Verhalten in unserer Beziehung auf ihr Verhalten in späteren Beziehungen gehabt hat. Und wie sich mein Verhalten ändern würde, wenn ich die Spuren berücksichtigte, die es hinterließ.
Viele werden diese Zitatbilder kennen, mit denen das Internet seit Jahren überschwemmt wird. Auch ich verfasse immer mal kurze Texte, um sie dann auf meinen Social-Media-Kanälen zu veröffentlichen. Natürlich immer neben einem vorteilhaft fotografierten Portraitfoto von mir. Eins dieser Zitatbilder lautete: „Leider haben die meisten etwas wichtiges verlernt: Sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, der andere zu sein. Behandelt andere wie ihr selbst behandelt werden wollt. Verletzt niemanden, wenn ihr selbst nicht verletzt werden wollt. Beleidigt oder demütigt keinen, wenn ihr selbst nicht beleidigt oder gedemütigt werden wollt. Dann wäre diese Welt ein bessere. Vielleicht wäre sie sogar perfekt.«
Es ist ein Zitat, das viele Likes bekommen hat. Aber es ist – wie so oft bei solchen Sätzen – im Alltag kaum anwendbar. Um dessen Inhalt zu berücksichtigen, wäre ein Charakter von enormer innerer Reife nötig, außergewöhnlich selbstreflektiert und hochempathisch. Alles Eigenschaften, die so gar nicht zu der Person auf dem Foto passten. Zu mir.
Welches Leben würde ich führen, wenn ich es nach seinen Folgen beurteile?
Meine Defizite zeigen sich schon bei unbeabsichtigten Verletzungen, die ich anderen zufügte, weil ich sie nicht sehe. Oft sind es schon die unmittelbaren Konsequenzen meines Handelns, die ich schon nicht mehr registriere. Missverständnisse, die ich nicht als solcher erkannt und deshalb nie aufgelöst hatte, unbedachte Äußerungen, weil ich mich angegriffen fühlte oder gerade einfach nur genervt war. Es ist erstaunlich, wie wenig mir klar war, wie ich mich tatsächlich verhalte. Solche Nachlässigkeiten können schnell zu ganz bewussten Handlungen werden, indem ich nur mich selbst sehe. Es ist sehr schwer, das zu erkennen. Empathie ist keine Eigenschaft, deren Pflege in der Schule gelehrt wird, obwohl das nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf unser gesamtes gesellschaftliches Miteinander hätte.
Manchmal frage ich mich, was passieren würde, wenn wir einander zuhören würden – also wirklich zuhören, indem man den anderen auch sieht. Aber die meisten übersehen andere, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um sie zu bemerken. Sie sehen die Welt ausschließlich durch das Objektiv ihrer eigenen Bedürfnisse.
Wie beschreibt man ein Leben? Misst man es an den Spuren, die man in den Leben anderer hinterlassen hat? Welche Fehler hat man gemacht, die nicht rückgängig zu machen sind? Es ist eine Frage, die wir uns vielleicht alle gelegentlich stellen sollten: Welches Leben würde ich führen, wenn ich es nach seinen Folgen beurteile?
Man könnte ja damit beginnen, herauszufinden, was der eigene Müll einem erzählt.
