Im Sommer 1990 machte ich eine Erfahrung, die noch bis heute in mein Leben strahlt. Ich verlor mein Vertrauen in die deutschen Charts. Der Grund war Matthias Reim, der mit dem Lied „Verdammt, ich lieb dich“ an der Spitze der deutschen Single-Charts stand. 39 unbarmherzige Wochen lang. Ich war gerade erst fünfzehn geworden, aber mein Weltbild bereits gesprungen. Es war ganz schrecklich.
Ich wandte mich enttäuscht ab. Matthias hatte alles versaut. Die deutschen Charts bedeuteten mir nichts mehr. Und das sollte schon etwas heißen, denn als Teenager, der in Ost-Berlin aufgewachsen war, hielt ich erstmal alles für cool, was aus dem Westen kam.
Mit heutigem Abstand kann ich meine damaligen Gefühle besser einordnen. Es lag gar nicht an Matthias Reim, oder diesem grauenvollen Song. Mich enttäuschte, dass „Verdammt, ich lieb dich“ so erfolgreich war. Es waren die Deutschen, die mich enttäuschten.
Ich fühlte mich fremd. Fremd im eigenen Land
Es ist ein Gefühl, das mich über die Jahre begleitet. Es ist immer da. Manchmal ist es kaum wahrnehmbar, aber wenn ich fast vergessen habe, dass es existiert, fällt ein grelles Schlaglicht auf die Unterschiede. Ich lerne Personen, die ich zu kennen glaubte, noch einmal neu kennen. Und gerade die Krisen der letzten Jahre haben Meinungen freigelegt, die mir das Gefühl geben, nicht wenige meiner Mitmenschen sogar etwas zu gut kennengelernt zu haben.
Ich weiß natürlich, dass Enttäuschung nichts schlechtes sein muss. Sie kann eine Befreiung von Illusionen sein. In Illusionen liegt ja immer die Gefahr, dass sie nur wenig mit dem Leben zu tun haben, das tatsächlich geführt wird. Mit jeder neuen Enttäuschung erfuhr ich mehr über das Land, in dem ich lebe, so schwer es mir auch fiel, diese Erkenntnisse zuzulassen.
So gesehen muss ich Matthias Reim dankbar sein. Er hat mich auf die Enttäuschungen vorbereitet, die noch kommen würden. Auf die vielen kleinen und großen Momente, in denen ich mich unter meinen Mitmenschen fremd fühlen würde.

Der Song, den die Deutschen 2022 zu ihrem Sommerhit gemacht haben, heißt „Layla“. Und im Gegensatz dazu ist die Poesie von Matthias Reim feinsinnige Hochkultur.
„Layla“ ist ein Partyschlager, der für den Ballermann geschrieben wurde. Ich war nie da, kenne aber die Geschichten. Der Ballermann scheint vor allem Leute anzuziehen, die Montage hassen. Die sich aufs Wochenende freuen, weil ihnen nur noch das Wochenendbesäufnis ein Gefühl von Lebendigkeit gibt. Ein Konzept, mit dem sie auch Urlaub machen.
Ich sehe mir die in regelmäßigen Abständen erscheinenden Spiegel-TV-Reportagen an wie andere sich „Bauer sucht Frau“ ansehen. Angewidert belustigt schäme ich mich fremd, wenn sich unzurechnungsfähige Volltrunkene um Kopf und Kragen reden. Das ist so in etwa die Klientel, an die sich der Song richtet. Eine prollige Minderheit, die man belächelt.
Zumindest habe ich das angenommen
Aber die Enttäuschung des Sommers 2022 zeichnet ein realistischeres Bild. Im Internet erfuhr ich, dass der Song 60 Millionen Mal gestreamt wurde. Und das war Anfang August. Der Ballermann ist wohl vielen näher als ich gehofft habe. Die Sehnsucht nach dem Wochenendbesäufnis – diese Zahlen haben sie von der Sehnsucht einer Minderheit zu einer deutschen Sehnsucht gemacht. Ich kann mir gut vorstellen, dass vielen Deutschen auch zum Saufen zumute ist, nach all den Entbehrungen der letzten Jahre. Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation, Gaskrise. Die Krisen reihen sich aneinander, und es sieht auch nicht aus, als würde demnächst mit positiven Wendungen zu rechnen sein. Die Woche war viel zu lang, sie hat zwei Jahre gedauert, die Wochenend-Eskalation ist überfällig. Und die Provinz liefert den passenden Soundtrack dazu.
Man darf mich jetzt nicht falsch verstehen. Wenn ich von Provinz spreche, ist das keine Frage der Geographie – sondern des geistigen Zustands. Layla ist ein provinzieller Song. Ein aus der Zeit gefallener Text, der so ziemlich allen modernen Auffassungen widerspricht. Wenn es nach dem Selbstbild der Deutschen geht, sind wir eigentlich schon viel weiter. Der Erfolg des Liedes hat die Provinz sichtbar gemacht. Die Provinz in unserem Kopf.
Darum kreisen die unzähligen Diskussionen über „Layla“ auch um die falschen Themen. Hier geht es nicht um Kunstfreiheit, Sexismus-Kontroverse oder Verbotsdebatte. Eigentlich sollten wir uns fragen, warum ein Lied mit einem solchen Text 60 Millionen Mal von Leuten gestreamt wurde, denen offenbar das Bewusstsein dafür fehlt, man könne mit dessen Inhalt eventuell ein ethisches Problem haben. Das macht „Layla“ übrigens Deutsch-Rap so ähnlich, dessen Vertreter ja ebenfalls zu den erfolgreichsten Interpreten in den Single-Carts zählen. In ihren Texten wird ebenfalls ein bedrückend provinzielles Weltbild gezeichnet – und es scheint niemanden zu stören.

Daran musste ich denken, als ich am letzten Dienstag in der „Buchbox“ in der Berliner Kastanienallee stand. In der Buchhandlung stapelten sich Bücher, die „Against white Feminism“ oder „Die Transgender-Frage“ hießen. Themen, die hier – in der Innenstadt von Berlin – so bedeutsam wirken, aber von einem Großteil der Bevölkerung mit Unverständnis belächelt werden. Alles Nischenthemen, die behandelt werden, als wären sie die Welt. Der Prenzlauer Berg ist nicht Deutschland, dachte ich. Wenn man hier lebt, neigt man nur schnell dazu, das zu vergessen. Wie ich.
Was in unzähligen Artikeln, Talkshow-Folgen oder Büchern debattiert wird, ist der Debattierklub einer Minderheit. Einer Minderheit, die ihre Blase für die Welt hält. Ich stelle ja selbst oft fest, wie sehr ich in einer Blase lebe, in der andere Lebenswelten nicht vorkommen. Genauso wie die Journalisten, Kommentatoren und Talkshow-Gäste bin ich in einer Wunschvorstellung gefangen. In einem idealisierten Selbstbild der Deutschen. Wir sehen nicht die Bevölkerung, sondern nur das Bild, das wir von der Bevölkerung haben wollen. Wir richten uns nicht an die Menschen, sondern an diejenigen, für die wir sie halten. Darum gehen diese Debatten am Bewusstsein der meisten vorbei. Darum haben so viele das Gefühl, dass an ihnen vorbeigeredet wird.
Der Erfolg von „Layla“ ist ein Blick in den Spiegel
Er gibt den Blick auf ein klares, ungeschöntes Spiegelbild frei. Es zeigt den Deutschen, wer sie sind, und nicht, wie sie sich selbst sehen möchten. Er zeigt den Deutschen, der nicht versteht, warum das, was er gerade gesagt oder gedacht hat, denn um Gottes Willen rassistisch, sexistisch, abwertend oder chauvinistisch sein soll. Die meisten sind doch eher „Berlin – Tag & Nacht“ statt „Neo Magazin Royale“.
Ich kenne dieses Gefühl. Als der Ukrainekrieg begann, und die Kommentatoren in den ernstzunehmenden Zeitschriften darüber debattierten, ob die Wehrpflicht wiedereingeführt werden sollte, entstand es auch in mir. Männer wären inzwischen zu verweichlicht, um Kriege führen zu können, schrieben sie. Ich verstand die Richtung dieser Diskussion nicht. Ich verstand Olaf Scholz nicht, der der Auffassung ist, Pazifismus passe nicht mehr in die Zeit. Ich verstand die Standing Ovations der Bundestagsabgeordneten nicht, als Scholz 100 Millionen Euro zusätzlicher Mittel für die Bundeswehr bereitstellte. Ich fand es auch unverständlich, wie gut sich so viele Mitglieder der Antikriegspartei „Die Grünen“ plötzlich mit Waffen auskannten. Sie sprachen über mich, als würde ich in einen Krieg ziehen wollen. Die unzähligen Meinungen umspülten mich, ohne mich zu berühren. Sie widersprachen meinem Weltbild. Sie holten mich nicht ab.
Mit einem ähnlich verwirrten Gefühl verfolgen viele „Layla“- Hörer wohl auch die Gender-Debatte. Sie verstehen nicht, warum Diskussionen, die sie gar nicht betreffen, so geführt werden, als würden sich alle sehr bewusst damit beschäftigen. Wenn man jemanden auf einen Fehler anspricht, der ihm gar nicht als etwas Fehlerhaftes bewusst ist, erzeugt man ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Und mit diesem Gefühl geht nahezu jeder in eine Abwehrhaltung. Dann blockiert man. Dann will man es nicht mehr verstehen.
Ein Hoffnungsschimmer
Im Spätsommer 2015 machte ich dann eine Erfahrung, nach der ich mein Vertrauen in die deutschen Single-Charts wiederherstellte. Zumindest teilweise, aber oft reicht das ja schon. Als sich ganz unerwartet der bereits 23 Jahre zuvor erschienene Song „Schrei nach Liebe“ der Band „Die Ärzte“ auf Platz 1 der deutschen Single-Charts befand. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Ein Anti-Nazi-Song. Ein Statement gegen Fremdenhass, das dem verzweifelnden Humanisten in mir Hoffnung gab.
Einige Wochen darauf las ich, dass sich im September unter den meistgesuchten deutschen Google-Suchbegriffen das Wort „Attitüde“ befand. Ich war ganz irritiert, als ich das las. Warum – um Gottes Willen – suchten denn so viele nach der Bedeutung von Attitüde? Dann fielen mir „Die Ärzte“ ein, die in „Schrei nach Liebe“ singen: „Alles muss man dir erklären, weil du wirklich gar nichts weißt, höchstwahrscheinlich nicht einmal, was Attitüde heißt.“
Gott, dachte ich, und musste unwillkürlich lachen. Soviel zum Thema Allgemeinbildung. Es war eine enttäuschende Erkenntnis, aber über diese kleine Enttäuschung schob sich eine Gewissheit, die viel kostbarer war. Auch wenn sie nicht ganz dem Bild entsprachen, das ich so gern von ihnen hätte, weil ich meine Blase für die Welt halte, gaben sie mir Hoffnung. Sie machten das distanzierte „sie“, mit dem ich sonst an sie dachte, zu einem „wir.“
Und wir – davon war ich plötzlich aus tiefstem Herzen überzeugt – wir schaffen das.
