Meiner Erfahrung nach ist man nur selten der Mensch, für den man sich hält. Die meisten registrieren es nur selten – leider – denn die Folgen dieses Missverständnisses sind nicht zu unterschätzen.
Es ist ein Widerspruch, der sich auch durch mein Leben zieht. In einem Vortrag der Neurologin Vera Birkenbiehl, den ich auf YouTube gesehen habe, erfuhr ich, dass es an meinem Verstand liegt. Seine Funktionsweise verhindert einen klaren Blick auf mich selbst. Wenn ich mir sage, welche Art Mensch ich bin, glaube ich mir das, auch wenn ich vollkommen anders handele. Und so geht es jedem.
Vielleicht geht es in einem Erwachsenenleben ja vor allem darum, Wege zu finden, um die eigenen Gewissheiten über sich selbst zu prüfen, um den Menschen hinter der Person, für die man sich hält, klarer zu sehen. Bevor das eigene Leben zu einem Missverständnis geworden ist. Ein Eindruck, den ich im Übrigen bei nicht wenigen Personen habe, sobald ich sie nur ein wenig besser kennenlerne.
Döner zum Frühstück
Ich kenne einen Mann, der seit Monaten in Gesprächen betont, dass er jetzt vegan lebe. Er macht das, um unseren Planeten zu schützen. „Fleischkonsum steht in der Top 3 der Klima-Killer“, sagt er überzeugt. Die meisten Leute, die ich kenne, verzichten auf Fleisch, weil sie sich gesund ernähren wollen, und nicht, weil ihnen das Wohl der Tiere oder des Planeten am Herzen liegt. Mein Bekannter hatte sich nicht aus egoistischen, sondern aus ethischen Motiven dafür entschieden. Ich war beeindruckt.
Meine Bewunderung zerfällt allerdings, wenn ich nachhake. Dann beginnt er widerstrebend von den Ausnahmen zu sprechen. Bei Besuchen bei den Eltern isst er Fleisch, weil er sie nicht verletzen will, auch bei Geburtstagsfeiern, Grillabenden – sowie an Donnerstagen, wie ich erst kürzlich erfuhr.
An einem Freitagmorgen vor einigen Wochen sprachen wir über Facetime miteinander, während er gerade mit seiner Familie frühstückte. Irgendwann fragte er seinen fünfjährigen Sohn: „Willste noch was vom Döner?“
„Döner?“, fragte ich. „Bei euch gibt’s Döner zum Frühstück?“
„Das sind noch Reste von gestern“, sagte mein Freund.
„Gestern war doch Dönerstag“, rief sein Sohn gutgelaunt.
„Dönerstag“, dachte ich. Das klang etabliert. Der Veganismus meines Freundes beinhaltet offenbar eine gewisse moralische Flexibilität. Er ist Veganer – aber unter Vorbehalt.
Wie viele Ausnahmen darf man machen, damit sie noch Ausnahmen sind? Das ist eine sehr gute, aber auch unbequeme Frage. Im Internet las ich, dass man bereits Wege gefunden hat, um sie sich nicht stellen zu müssen. Leute wie meinen Bekannten nennt man nicht Veganer, er ist Flexiganer. Es gibt auch Flexitarier. „Flexi“ ist ein Halbwort, in dem man sich wohlfühlen kann, an ihm rutscht jeder Selbstzweifel ab. Jede Ausnahme wird unsichtbar. Das Selbstbild bleibt poliert. So gesehen sind Wladimir Putin oder Donald Trump Flexi-Demokraten, und wer mit dem SUV zum 800 Meter entfernten Wahllokal fährt, um grün zu wählen, musste sich dann wohl Flexi-umweltbewusst nennen.
„Flexi“ ist offensichtlich das Wort, auf das wir uns alle einigen können, dachte ich.

Seitdem bin ich sensibilisiert. Eine gewisse moralische Flexibilität ist eine Eigenschaft, die viele universell anwenden. Ich beobachte sie andauernd. Ich bin von Selbsterklärten umgeben. Und weil Empathie inzwischen zu einem deutschen Sehnsuchtswort geworden ist, gibt es gerade sehr viele Menschen, die erklären, wie empathisch sie sind.
Ich kenne eine Frau, die mir in regelmäßigen Abständen versichert, wie empathisch sie ist. Die enorme Ausprägung dieser Fähigkeit scheint sie selbst immer wieder aufs Neue zu überraschen. Auch mich überrascht ihre Feststellung. Allerdings aus anderen Gründen.
Es treibt ihr Tränen in die Augen, wenn sie Bilder aus syrischen Kriegsgebieten sieht. Sie beschwert sich aber unmittelbar darauf über die Menschen, die aus denselben Kriegsgebieten in unser Land flüchten. Es ist ja schon eine beeindruckende Leistung, diesen Zusammenhang nicht zu erkennen. Ihre Empathie endet unmittelbar dort, wo sie ihre persönlichen Interessen bedroht sieht. Eine Empathin, die Probleme mit Kriegsflüchtigen hat, ist eine Empathin unter Vorbehalt. Eine Flexipathin.
Empathie ist aber nicht nur die Fähigkeit, die Situation anderer nachzuempfinden, um dessen Gefühle und Sichtweisen zu verstehen. Empathie ist vor allem, die eigenen Handlungen auf dieses Verstehen abzustimmen. Daran musste ich denken, als ich vor einigen Tagen im Stern gelesen habe, dass eine Mehrheit der Deutschen nicht mehr bereit ist, finanzielle Nachteile für die Sanktionen gegen Russland in Kauf zu nehmen. Wir leiden seit Februar mit der Bevölkerung der Ukraine, aber dieses Mitgefühl wird umgehend gelöscht, sobald uns Maßnahmen gegen ihr Leid etwas kosten könnten. Moral muss man sich leisten können. Oder wollen. Und wenn es um Geld geht, wollen viele offensichtlich vieles nicht.
Dass Empathie gerade in den vergangenen Jahren eine Renaissance erlebt, hängt ja vor allem damit zusammen, dass uns bewusst geworden ist, wie sehr wir diese Eigenschaft in unserem gesellschaftlichen Miteinander vernachlässigt haben. Wir sind den Konsequenzen ausgesetzt. Würden wir unsere Empathie kultivieren, zwischen den Menschen, in der Politik, auch der Weltpolitik, würden wir vollkommen andere Wege sehen, um mit den drängenden Problemen, Verwerfungen und Krisen umzugehen. Aber auf jeder Ebene bleiben die meisten nur solange empathisch – solange es nicht teuer wird.

Im Sommer habe ich den Roman „Die Brüder Karamasow“ gelesen, in dem Fjodor Dostojewski diesen Wesenszug bereits beschreibt. „Wir folgen den edelsten Idealen“, schreibt er. „Aber nur unter der Bedingung, dass sie, und das ist die Hauptsache, uns gar nichts kosten. Gegen das Zahlen haben nämlich wir eine schreckliche Abneigung, das Nehmen dagegen lieben wir sehr.“ Das Buch erschien 1879. Viel scheint sich seitdem nicht geändert zu haben.
Es ist ein menschlicher Makel, der gerade selbstreflektierten, empathischen Weltbürgern, für die sich so viele halten, eigentlich bewusst sein sollte. Eine gestörte Selbstwahrnehmung, an der man arbeiten muss. Daraus entsteht eine Doppelmoral, die man gar nicht wahrnimmt. Solange sie unsichtbar bleibt, wird es Veganer geben, die dann doch immer mal Fleisch essen – aber unter Protest. Bis dahin kaufen viele weiterhin Fleisch, dessen Preis unter dem von Tomaten liegt, um Geld zu sparen – aber unter Protest. Bis dahin bleiben wir Empathiker, deren Mitgefühl umgehend entfernt wird, sobald wir unseren Lebensstil einschränken müssten. Und bis dahin bleiben wir Umweltbewusste, deren Umweltbewusstsein sofort gelöscht wird, sobald es teuer wird.
Es ist ein Selbstbetrug auf Kosten anderer. Die Grenze ist erreicht, wenn andere geschädigt werden, aber man sieht nur, welche Verletzungen man anderen zufügt, wenn man die Welt nicht nur durch das Objektiv der eigenen Bedürfnisse wahrnimmt.
Es ist schon aufschlussreich, wie verzerrt wir uns selbst wahrnehmen. Wie weit der Mensch, für den man sich hält, von dem entfernt sein kann, der man wirklich ist. Manchmal ist die Entfernung so groß, dass es eigentlich kaum noch Schnittmengen zwischen Selbstbild und Wirklichkeit gibt. Manchmal gibt es auch gar keine. Tragisch ist nur, dass es niemandem aufzufallen scheint, wie sehr man sich selbst fortwährend fehldeutet.
Vielleicht wäre es klug, eigene Überzeugungen mit unserem Handeln abzugleichen. Das, was wir im Alltag erleben, in Beziehung dazu zu setzen, was wir für richtig halten. Um uns möglichst weit dem Menschen zu nähern, für den wir uns halten. Und auch dementsprechend zu handeln.
Die Folgen wären nicht zu unterschätzen.
